Pater Hans Zollner über den Kampf gegen Missbrauch

"Sie sollten doch Manns genug sein"

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Der Jesuit und Kinderschutz-Experte Hans Zollner leitet das Institut für Safeguarding an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Im Interview spricht er über die Auswirkungen des Münchner Missbrauchsgutachtens, das Verhalten von Papst Benedikt XVI. und die Frage, was er jetzt von den Bischöfen erwartet.

Hans Zollner, Kinderschutz-Experte in Rom
Hans Zollner, Kinderschutz-Experte in Rom

Was unterscheidet das Gutachten der Kanzlei Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl über Missbrauch im Erzbistum München-Freising von anderen?

Der wichtigste Unterschied für den deutschen Sprachraum ist, dass ausführlich Zeitzeugen und vor allem viele Betroffene gehört wurden. Für die Betroffenen ist wichtig, dass ihre Stimme ungefiltert gehört wird. Das Gutachten geht über die rein rechtliche und kirchenrechtliche Betrachtung hinaus. Das ist notwendig.

Das Gutachten war eine Arbeit im Auftrag des Erzbistums. Aber es war unabhängig. Dennoch sagen viele, eine wirklich unabhängige Aufarbeitung könne es nicht durch die Kirche geben. Sollte der Staat diese Aufgabe übernehmen?

Wie wir an diesem Beispiel sehen, stimmt die Behauptung nicht, dass eine von der Kirche beauftragte Kanzlei keine unabhängige Aufklärung betreiben könnte. Insofern stimme ich dieser Forderung so allgemein nicht zu. Ich glaube aber schon, dass es notwendig wäre, dass sich der Staat zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufklärungsarbeit verpflichtet. Dabei wäre nicht nur die katholische Kirche einzubeziehen, sondern auch die evangelische Kirche, Koranschulen, der Sport, Heime, öffentliche Schulen sowie der familiäre Kontext, in dem laut Aussage aller Fachleute die meisten Übergriffe stattfinden.

Eine große Aufgabe.

So ist es. Die wenigen Länder, in denen die Aufarbeitung komplett vom Staat übernommen wurde, sind Länder des angelsächsischen Rechtssystems. Etwa Australien, Neuseeland oder England. Die Frage ist auch, wer das bezahlt. Die Royal Commission in Australien hat 528 Millionen australische Dollar gekostet. Bei solchen Zahlen werden nicht nur Politiker vorsichtig.

Es ist also aus rechtlichen und finanziellen Gründen schwierig, bei uns eine staatliche Aufarbeitung zu realisieren?

Ich habe selbst 2020 versucht, mit Parlamentariern in Berlin über die Möglichkeiten einer Enquetekommission zu sprechen. Aber es gibt eine große Zurückhaltung auf politischer Ebene. Man müsste eine solche Kommission mit entsprechenden Rechten ausstatten. Da sind Persönlichkeitsrechte zu beachten, Archivrechte. Man kann nicht Unrecht bekämpfen, indem man neues Unrecht schafft wie etwa in Belgien vor zwölf Jahre geschehen.

In München haben wir jetzt unabhängige Aufarbeitung erlebt. Aber nicht in allen Diözesen geht das so.

Im Grunde ist es eigentlich nur in Köln nicht so gelaufen. Die anderen Gutachten, von denen ich weiß, scheinen so zu laufen, dass sich die Kirche nicht mehr einmischt, wenn der Auftrag einmal vergeben wurde. Das Erzbistum München-Freising hat einen Haufen Geld ausgegeben. Und die Gutachter kritisieren dann das Bistum sehr scharf. Ich wüsste nicht, wie man noch mehr effektive Unabhängigkeit bekommen sollte.

Die Gutachter von München sagen, es ist jetzt Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen, weil sich die Ergebnisse der Gutachten ohnehin ähnlich sind. Dennoch laufen in vielen Bistümern diese Arbeiten weiter. Mit welchem Ziel?

Von der reinen Datenlage her erfahren wir wahrscheinlich keine überraschenden Dinge mehr. Es spiegelt sich mit gewissen Bandbreiten weltweit wider, dass es in den letzten 80 Jahren gegen drei bis fünf Prozent der Diözesanpriester Anschuldigungen wegen Missbrauchs gibt. Die überwiegende Zahl der Taten war in den 60er und 70er Jahren. Die größte Alterskohorte der Missbrauchsbeschuldigten liegt zwischen 35 und 50 Jahren. Überall gibt es speziell in den früheren Jahren ein Übergewicht an männlichen Opfern unter den Kindern und Jugendlichen. Da wird es keine großen Änderungen mehr geben.

Was ist dann der Sinn weiterer Gutachten?

Der Sinn kann nur sein, dass Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, sich zu äußern. Und dass man die Verantwortlichen für das Fortdauern von Missbrauch benennt, dass man herausfindet, wer wofür zuständig war. Das ist nicht einfach, weil es innerhalb der katholischen Kirche eine Kultur der Verwischung von Verantwortlichkeit und ein Fehlen von Rechenschaftspflicht gibt. Aber die Namen der Vertuscher müssen genannt werden.

Die Anwälte haben darauf hingewiesen, dass die Zeit drängt, weil Täter und Opfer alt werden und sterben.

Das ist so. Natürlich müsste es viel schneller gehen. Aber man muss auch gründlich sein und die Rechte aller Seiten wahren. Das dauert nun mal. Wir haben ja erst seit vier Jahren die Frage von systemischer Verantwortung auf dem Schirm. Dieses Bewusstsein war vor zwölf Jahren noch nicht da, als der Missbrauch am Canisiuskolleg das öffentliche Interesse auslöste. Wie lange vor diesem Ereignis haben sich die meisten von uns denn mit dem Thema beschäftigt? Wann hat die deutsche Gesellschaft damit angefangen? Vor genau zwölf Jahren.

Wie bewerten Sie die Reaktionen der Verantwortlichen in München, die man im Gutachten lesen kann?

Es gibt Leute, die Fehler eingestehen. Es gibt Leute, die Missbrauch bedauern, aber keine persönliche Verantwortung sehen. Und es gibt Leute, die sich geweigert haben, an der Aufklärung mitzuarbeiten. Das Bewusstsein für die Übernahme persönlicher Verantwortung in der Kirche ist nur gering vorhanden. Man nimmt die Annehmlichkeiten des Amtes in Anspruch, aber nicht die Schattenseiten. Mir hat schon vor zehn Jahren ein deutscher Weihbischof gesagt, es mache „keinen Spaß mehr“, Bischof zu sein. Bischof Genn von Münster spricht heute davon, dass Bischöfe überfordert seien. Dann muss man eben über die Rolle der Bischöfe nachdenken, praktisch und theologisch.

Sehen Sie, dass sich diese katholische Kultur verändert?

Es verändert sich etwas. Seit drei Jahren haben wir ein Gesetz, in dem zum ersten Mal eine Verantwortung für das Vorgehen in Missbrauchsfällen und für Vertuschung durch Bischöfe etabliert worden ist. Bei einem Teil der Bischöfe und einem Großteil der Ordensoberen ist diese Botschaft angekommen. Aber in den Apparaten gibt es Widerstand. In der Kirche gibt es bei vielen die Tendenz, sich selbst nur als kleines Rad darzustellen. Das sieht man auch an Bischöfen, die sagen, ich würde ja gerne zurücktreten, aber der Papst lässt mich nicht. Stattdessen sollten sie doch Manns genug sein und sagen, egal, was der Papst jetzt sagt, ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr. Punkt.

Wie werten Sie das Verhalten des emeritierten Papstes?

Es war gut, dass er die Konfrontation ernst genommen hat. Die 82 Seiten Stellungnahme sind von ihm unterschrieben und daher von ihm zu verantworten. Offenbar haben Leute daran gearbeitet, die ihm einen Bärendienst erwiesen haben. Da stehen Dinge drin, die mit seinen theologischen Positionen nicht in Einklang zu bringen sind.

Zum Beispiel?

In der Stellungnahme steht, dass es nicht als Missbrauch eines Priesters zu sehen ist, wenn er im privaten Bereich missbraucht und nicht als Priester erkennbar ist. Das widerspricht allem, was wir über Priester sagen. Ich kann mein Priestersein doch nicht mit dem Priesterkragen am Kleiderhaken ablegen. Dann wird als Entschuldigungsgrund für Entscheidungen der Zeitgeist von 1980 angeführt. Wie passt das damit zusammen, dass Benedikt XVI. vor drei Jahren einen Brief geschrieben hat, in dem er diesen Zeitgeist attackiert und als Grund für Missbrauch in den 60er und 70er Jahren anführt? Ist er dann selber von diesem Zeitgeist infiziert gewesen? Ich hoffe sehr, dass er sich noch für das, was er zu verantworten hat, verantwortlich zeigt und sich glaubhaft entschuldigt.

Der Kirche wird immer wieder vorgeworfen, dass sie nur schleppend aufarbeitet. Dabei ist schon viel getan worden, wie etwa diese Gutachten. Wie können die Bischöfe diesem Vorwurf begegnen?

Kaum eine andere Institution in Deutschland und weltweit hat mittlerweile mehr gegen sexuellen Missbrauch unternommen als die katholische Kirche, sowohl was die Prävention als auch die Aufklärung und Aufarbeitung angeht. Der öffentliche Eindruck ist aber, dass sich nichts bewegt. Die deutschen Bischöfe kommen daher nicht darum herum, ein Zeichen zu setzen, mit dem sie nachvollziehbar zeigen, dass es ihnen ernst ist mit dem Hören auf die Betroffenen, mit dem Durchleuchten von Machtstrukturen. Sie müssen zeigen, dass sie nicht sich selbst und die Kirche, sondern die Botschaft in den Mittelpunkt stellen.

Was kann das für ein Zeichen sein?

Die Bischöfe könnten wie in Frankreich bei jeder Sitzung der Bischofskonferenz Zeugnisse von Betroffenen hören und dann mit Betroffenen zusammensitzen und ins Gespräch kommen. Es könnten auch finanzielle Konsequenzen sein. Man könnte etwa flächendeckend Anlaufstellen einrichten, in denen man Betroffene anhört und ihnen wirklich hilft. Die katholische Kirche muss verstehen, dass sie noch viel mehr Personal, Zeit und Geld als bisher investieren muss. 

Haben die Bischöfe den richtigen Zeitpunkt für ein solches Zeichen verpasst?

Natürlich wäre es besser, wenn das vor zehn Jahren gewesen wäre. Aber da sind wir nicht mehr. Wir bekommen Glaubwürdigkeit nur zurück, wenn eine Gewissenserforschung erfolgt, glaubwürdige Zeichen der Reue gezeigt werden, es ein Bekenntnis der Fehler gibt und Wiedergutmachung versucht wird. Das sind die vier Elemente einer gültigen Beichte. Mich beschäftigt seit Jahren, warum wir das von Einzelnen fordern, aber nicht auf uns selber als Kirche anwenden.

Interview: Ulrich Waschki