Vergebung in der Bibel

Tut mir echt Leid!

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Vergebt einander, damit auch euch vergeben wird: So könnte man die biblischen Texte des Sonntags zusammenfassen. Das klingt logisch, ist in der Praxis aber schwierig, sagt die Psychologin Friederike von Tiedemann. 

Zwei Frauen reichen sich die Hand.
"Ich vergebe dir" - das zu sagen ist schwer, aber es lohnt sicht. 

Von Ulrich Waschki  

Ein Mann erzählt von einem langwierigen Streit mit einem Verwandten. Seinen Namen und die Details möchte er nicht in der Zeitung lesen, weil ihm das zu persönlich ist. Was er aber betont, ist: „Dieses Evangelium hat mich immer wieder bestärkt.“ Oft schon hatte der Mann das Wort Jesu vom Verzeihen gehört, das an diesem Sonntag im Evangelium zu lesen ist. „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt?“, fragt Petrus darin. „Bis zu siebzigmal siebenmal“, antwortet Jesus. Also: immer und immer wieder. Auf einmal waren das keine frommen Verse mehr, sondern eine echte Aufforderung. Geholfen hat ihm auch, dass Jesus das Vergeben vorgelebt hat. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, betete er am Kreuz.

Sich diese Worte immer wieder vorzuhalten, kann Kraft und Durchhaltevermögen geben. „Mir hat das Knien vor dem Kreuz geholfen, auf den Gekreuzigten zu schauen, sein Vorbild zu sehen und ihm den ganzen Mist hinzuhalten“, erzählt der Mann. Zwei Jahre dauerte es bis zur Versöhnung mit seinem Verwandten. Ausgesprochen haben sich die beiden nie. „Es bleibt eine Verletzung. Aber ich habe einen Weg gefunden, der mir Frieden gibt“, erzählt der Mann.

Die offene Rechnung der beiden wurde nicht beglichen, aber sie konnten sie wegschieben. Sie lassen sich vom Streit nicht mehr beherrschen. Darum geht es im Evangelium und in der ersten Lesung. „Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir deine Sünden vergeben.“ Im Umkehrschluss: Kannst du nicht vergeben, wird dir nicht vergeben. Alte Geschichten und Verletzungen quälen dich weiter. 

Wer vergeben kann, ist gesünder

Was in den Bibeltexten beschrieben wird, ist mittlerweile wissenschaftlich erforscht. „Bei sämtlichen Gesundheitsmarkern wurden bei Menschen, die versöhnt sind, bessere Werte gefunden“, berichtet die Psychologin Friederike von Tiedemann von amerikanischen Studien. Menschen, die nicht verzeihen können, geht es also körperlich schlechter. Doch offene Rechnungen wirken vor allem in der Seele. „Groll, Wut, Gewalt und Rache hinter uns zu lassen, ist die notwendige Voraussetzung für ein geglücktes Leben“, formulierte Papst Franziskus 2015 zum Jahr der Barmherzigkeit. Die Vergebung ist für Franziskus „das Instrument, das in unsere schwachen Hände gelegt wurde, um den Frieden des Herzens zu finden“.

Doch das ist leichter gesagt als getan. „Wie schwer ist es anscheinend, immer und immer wieder zu verzeihen!“, schreibt der Papst. Unser Gehirn sei darauf programmiert, auf negative Reize zu reagieren, erklärt Friederike von Tiedemann. Jeder kennt das: Haben wir von einem anderen Menschen erst einmal ein negatives Bild, kann jeder Blick, jeder Satz dieses Menschen das bestätigen. „Jetzt guckt der schon wieder so desinteressiert“, denken wir dann. Oder: „Jetzt provoziert er mich schon wieder.“

Aber: Verzeihen kann man einüben. „Es ist eine aktive Entscheidung, unsere Aufmerksamkeit umzulenken auf positive Dinge“, sagt Friederike von Tiedemann, die sich als Therapeutin mit dem Thema befasst und ein Handbuch über „Versöhnungsprozesse in der Paartherapie“ geschrieben hat. Um verzeihen zu können, muss ich meine innere Haltung einem anderen Menschen gegenüber verändern und so eine wohlwollende Sichtweise auf den anderen entwickeln. 

Manchmal kann das ganz banal sein. Beim Nachbarn etwa, über den ich mich immer wieder aufrege, kann ich zum Beispiel auf das schöne Blumenbeet schauen und ihm so gestimmt einen guten Tag wünschen. Die „Herstellung positiver Gegenseitigkeit“ nennt die Psychologin das. In Worten, aber auch in meinem Gesichtsausdruck, meiner Körperhaltung signalisiere ich meinem Gegenüber, mit welcher Haltung ich ihm begegne. Mein Gegenüber reagiert darauf – und so summieren sich negative oder eben auch positive Gedanken auf. 

In der Paartherapie versucht Friederike von Tiedemann zerstrittenen Paaren zu helfen, sich aus ihrem Kreislauf der Zerstörung zu befreien. „Mindestens zweimal am Tag sollen sie sich etwas Positives mitteilen.“ Gleichzeitig geht es auch darum, die gemeinsame Geschichte aus der Sicht des anderen zu sehen, „mich in die Schuhe des anderen zu stellen“, um die eigenen Anteile an der Situation zu erkennen. 

Leichter beim Nachbarn als beim Ehegatten

In der Praxis ist das, je nach Verletzung und gemeinsamer Geschichte, ein langer und anstrengender Weg. Dem Nachbarn zu verzeihen, ist relativ einfach, seine eigene Ehe zu retten, die verkorkste Familiengeschichte aufzuarbeiten nicht. Dafür gibt es therapeutische Hilfe wie von Friederike von Tiedemann. 

Und die Arbeit lohnt sich. Im biblischen Gleichnis übergibt der König den unnachgiebigen Schuldner „den Peinigern“. Dagegen ist Vergebung eine Befreiung. Im Evangelium macht Jesus klar, dass Gott immer wieder bereit ist zu verzeihen und die Menschen genauso handeln sollen. Noch einmal Papst Franziskus: „Wir sind also gerufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde. Die Vergebung von begangenem Unrecht wird zum sichtbarsten Ausdruck der barmherzigen Liebe, und für uns Christen wird sie zum Imperativ, von dem wir nicht absehen können.“

Manche Verletzungen aber sitzen so tief, dass man sie bei allen Anstrengungen nicht verzeihen kann. Und dies kann auch niemand erwarten. Sexueller Missbrauch etwa. „Ein liebender Gott wird den Menschen zugestehen, dass sie Grenzen haben, sie gehören zur Würde eines Menschen dazu“, sagt Friederike von Tiedemann.