Interview mit dem Eichstätter Dogmatiker Manfred Gerwing

Über Redeverbote

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Die Apostel müssen vor dem Hohen Rat ihre neue Lehre rechtfertigen. Heute müssen Theologinnen und Theologen das vor der Glaubenskongregation in Rom. Zu Recht? Fragen an den Eichstätter Dogmatiker Manfred Gerwing.

Foto: Sabine Radtke
Die Apostel vor dem Hohen Rat: Fenster in der St.-Petri-Kirche in Rostock. Foto: Sabine Radtke

Professor Gerwing, ist die Situation der Apostel vergleichbar mit dem, was katholische Theologen mit dem Lehramt erleben?
Der Vergleich hinkt, denn zwei Dinge, die nicht passen, werden verbunden: die Situation damals, die Situation heute. Die Situation damals war so: Die Apostel verkündeten die Frohe Botschaft: Jesus ist Christus. Immer mehr Menschen glaubten dieser Botschaft und bekehrten sich zum Herrn. Heute schwindet zumindest in unserer Region die Zahl der Gläubigen. Das kirchliche Lehramt versucht, das Bekenntnis zu Jesus Christus zu wahren und zu stärken. Wenn Theologen heute mit dem kirchlichen Lehramt zusammenstoßen, dann geht es nicht selten darum, dass diese ihre eigenen Lehren und Vorstellungen durchsetzen und sich ihre eigene Gemeinde, ihren Fanclub aufbauen wollen. Sie halten sich gerade nicht an Jesus Christus. Hier schreitet dann das kirchliche Lehramt ein. 

Muss es so etwas wie oberste Glaubenshüter geben? 
Die Institution des kirchlichen Lehramtes hängt unmittelbar mit der Struktur des Glaubens zusammen. „Der Glaube kommt vom Hören, das Hören aber vom Wort Christi“, heißt es im Römerbrief 10,17. Die Tatsache aber, dass der Glaube vom Hören kommt, gilt nicht nur für jeden Einzelnen, sondern zuvor für die Kirche als ganze. Der Glaube steht nicht in der Verfügungsgewalt der Gemeinde. Diese Glaubensstruktur drückt sich vornehmlich in der Institution eines Dienst-Lehramts aus, das der Kirche den gleichen Glauben zu verkünden hat, den die Kirche der Welt verkünden soll. Das Dienst-Lehramt dient der Wahrung der Identität des Glaubens aller.

Die Apostel fordern einen radikalen Neubeginn in der jüdischen Lehre: Wie funktioniert in der  Kirche die Weiterentwicklung der Glaubenslehre?
Es geht darum, diesen radikalen Neubeginn festzuhalten oder besser, diesem treu zu bleiben. Es geht also nicht so sehr um Weiterentwicklung, sondern um die Weitergabe des Glaubens durch die Jahrhunderte. Eine Weiterentwicklung kann nur so verstanden werden, dass der Glaube das Leben immer noch weiter und intensiver durchformt. Dabei ist zu beachten: Der Glaubensinhalt ist keine Lehre, sondern eine Person. Der christliche Glaube ist keine Ideologie, Christen glauben nicht an eine Idee, schon gar nicht an ein System, sondern an das Wort Gottes, das in Jesus Christus Mensch geworden ist. Es geht darum, stets Sein Angesicht zu suchen. 
 

Aber die Lehre entwickelt sich doch weiter. Beispiel Schöpfungslehre. Früher hat man Leuten mindestens Predigtverbot erteilt, wenn sie sagten: „Die Erde dreht sich um die Sonne.“
Die Kirche muss die Erkenntnisse der Natur- und Humanwissenschaften zur Kenntnis nehmen. Sie überschreitet ihre Kompetenz, wenn sie wissenschaftliche Forschungsergebnisse verurteilt. Die Kirche kann von ihrem Selbstverständnis her wissenschaftliche Auffassungen überhaupt nur insofern „ächten“, als sie in der Lage ist, diese wissenschaftlich zu widerlegen. Mehr noch: Die Kirche ist auf diesen Dialog mit den Wissenschaften angewiesen, weil sie einen Glauben vertritt, der nach Einsicht verlangt. Insofern hat sie sich auch stets für Bildung, Schule, Hochschule und Universität engagiert. Sie kann keine Lehre vertreten, die wissenschaftlicher Erkenntnis widerspricht. Tut sie es dennoch, versündigt sie sich. Christlicher Glaube ist nur dann christlicher Glaube, wenn er durch den Katalysator der Vernunft, des sorgfältigen Denkens gegangen ist. „Ecclesia semper reformanda.“ Die Kirche ist stets zu erneuern.

Foto: KU Eichstätt
Manfred Gerwing ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Foto: KU Eichstätt

Apostel und Hoher Rat beriefen sich gleichermaßen auf die Propheten – nur kamen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. Kann es sein, dass Schrift und Tradition nicht eindeutig sind, sondern interpretierbar?
Das kann nicht nur so sein. Das ist so. Der heilige Thomas Morus hat es einmal so formuliert: „Tradition besteht nicht darin, an der Asche festzuhalten, sondern die Flamme weiterzugeben.“ Die Flamme, das ist der Geist Christi, der Glaube an Jesus Christus. 

Stichwort Geist: Die Apostel betonen, dass Gott den Heiligen Geist „allen verliehen hat, die ihm gehorchen“. Wer beurteilt heute, wie wer Gott gehorcht? 
Auch hier gilt wieder: „Der Glaube kommt vom Hören, das Hören aber vom Wort Christi.“ Der Glaube ist entscheidend. Er ist die Frucht der Verkündigung der Frohen Botschaft. Diese besagt, dass ich aufgenommen bin in die Liebe des Vaters zum Sohn, die der Geist ist. Diese Liebe ist unüberbietbar. Sie ist stärker als der Tod. Wer das wirklich glaubt, liebt selbst. Diese Liebe zeigt sich an den guten Werken. Dabei machen nicht die Früchte den Baum gut, sondern umgekehrt: Nur ein guter Baum bringt gute Früchte. 

Nun kann man Theologen mit neuen Ansichten ja weder Glaube noch Liebe absprechen und wohl auch nicht den Geist Gottes. Müssen sie nicht, wie die Apostel, das verkünden, was sie für richtig erkannt haben?
So ist es. Theologinnen und Theologen müssen diese Freiheit des Denkens, Redens und Handelns haben. Und sie haben diese in aller Regel auch, so wenigstens meine fast 30-jährige Erfahrung als Theologieprofessor. Es geht ja darum: Die Kirche verkündet einen Glauben, der verstanden werden will. Glaube und Vernunft bilden im Christentum ein Junktim. Speziell den Theologinnen und Theologen fällt die Aufgabe zu, den Glauben im Raum der Wissenschaft zu verantworten. Das können sie aber nur, wenn ihnen seitens des kirchlichen Lehramtes Vertrauen geschenkt und ihre Freiheit nicht eingeschränkt wird. 

Susanne Haverkamp