St. Ansgar in Bremerhaven-Leherheide

Unterwegs im Zelt Gottes

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Die Kirche St. Ansgar in Bremerhaven-Leherheide ist eine Station an der „Straße der Moderne“. Wir stellen sie im zweiten Teil unserer Serie vor.


Die St.-Ansgar-Kirche in Bremerhaven-Leherheide
erinnert an ein Zelt. Sie wurde 1974 geweiht.

Diesen Kirchenraum muss man erleben: Er ist weit, hoch, hell und einladend. Die roten, kreisförmig angeordneten Sitzbänke werden von den Wänden in dezenten Weiß-Grau-Tönen umfangen, der Blick richtet sich auf den Altarbereich mit der großen roten Turmstele, die von dem grauen Marmorfußboden in den Himmel aufragt. Allein dieser Farbkontrast ist kühn und überwältigend. Feierliche Schönheit und Demut, Hoffnung und das Wissen um die eigene Begrenztheit – diese beiden Pole finden Ausdruck in diesem beeindruckenden Kirchenbau des Architekten Jo Filke.

Der Grundstein für St. Ansgar im Norden der Seestadt Bremerhaven wurde 1973 gelegt, ein Jahr später wurde die Kirche geweiht. Es waren die Jahre des Wachstums und des Aufbruchs, im Bistum wurden in der Nachkriegszeit rund 300 neue Kirchen gebaut, das war ein wohl einmaliger Bauboom. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Bistum fast eine Viertelmillion Katholiken aufgenommen, die ihre Heimat verloren hatten und eine Zuflucht suchten. Auch die Stadt Bremerhaven an der Wesermündung wuchs stark an, nachdem sie 1947 eigenständig geworden war.

Im Stadtteil Leherheide entstand in den 1960er Jahren ein neues Wohngebiet, und so entschloss man sich, dort auch ein neues Kirchenzentrum im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils zu bauen: einen Treffpunkt für die Gemeinde im Quartier, dessen Herzstück, die Kirche, nach den liturgischen Erfordernissen einer zeitgemäßen Theologie ausgestattet werden sollte. Für den Architekten aus Bremerhaven war diese Aufgabe eine besondere Herausforderung.
 


Viel Licht und der Kontrast der Farben bestimmen
das Kircheninnere.

Auf dem Grundriss eines Viertelkreises schuf Filke eine dynamische Raumlösung mit einer eindrucksvollen Lichtführung. Die Kirchenfenster aus Ornamentgläsern sind von Streifen aus rotem Antikglas durchzogen, auch hier wird das Farbenspiel aus Weiß und Rot fortgesetzt. Diese formale Konzentration findet sich ebenso bei den liturgischen Ausstattungstücken des Künstlers Wilhelm Keudel und seines Nachfolgers Hans-Gerhardt Bücker. Taufstein, Altar und Ambo aus grau-weißem Travertin in dreiteiliger Kelchform. Der mächtige, sieben Meter hohe Lebensbaum wird von einem mattvergoldeten Kruzifix bekrönt – in Blickachse zur thronenden Muttergottes mit Kind aus Bronze. 1997 kam der Kreuzweg des Künstlers Benedict Schmitz dazu – ein Natursteinmosaik mit elf Stationen.

Von Jo Filke stammen fünf Sakralbauten im Norden, eine von ihnen, die Kirche St. Nikolaus in Bremerhaven-Wulsdorf mit einer mutigen Turmlösung, die an den Turm der Heilig-Geist Kirche von Alvar Aalto in Wolfsburg erinnert, wurde 2010 abgerissen. Inzwischen ist man vielleicht etwas achtsamer im Umgang mit Bauwerken der Nachkriegsmoderne. Die St. Ansgar-Kirche in Bremerhaven-Leherheide gilt als Filkes gelungenstes Werk. „Immer wird hinter der gebauten Architekturform der katholisch praktizierende Christ spürbar, dem die Hinordnung der Gemeinde zum liturgischen Geschehen im Sinne einer tätigen Mitfeier ein inneres Anliegen war“, schreibt der Künstlerseelsorger und Experte für modernen Kirchenbau, Ulrich Schmalstieg, über den Architekten Jo Filke, der 2001 verstorben ist.

Schmalstieg, der selbst einige Jahre Pfarrer in Bremerhaven war, hat den Bau von St. Ansgar als eines der wichtigen Zeugnisse der Nachkriegsmoderne wiederentdeckt. Das Gotteshaus ist inzwischen auch eine Station an der „Straße der Moderne“, das Deutsche Liturgische Institut in Trier hat dieses Projekt vor einigen Jahren ins Leben gerufen. In diesem Online-Reiseführer werden rund 200 herausragende moderne Kirchen vorgestellt, es handelt sich um eine Art „Best-of“, um den Blick für zeitgenössische Kirchenbauten zu schärfen.

Auch von außen setzt St. Ansgar in Bremerhaven-Leherheide Maßstäbe. Je nachdem, von welcher Seite man sich dem Gotteshaus nähert, erscheint es wie eine Sprungschanze oder ein Zelt. Der Turm schiebt sich vom Radiusmittelpunkt der Kirche 17,5 Meter in die Höhe, hinzu kommt die 4,5 Meter hohe Glockentube. Der geräumige Kirchenvorplatz mit seinen Bänken und Bäumen wirkt wie eine Oase im Stadtteil am viel befahrenen Mecklenburger Weg. Das schwere Kirchenportal zeigt den Heiligen St. Ansgar als „Apostel des Nordens“ über den Konturen der Seestadt Bremerhaven. Ein anregendes Ziel also für Architektur- und Kirchenbaufans, die in Richtung Nordsee unterwegs sind.

Auskunft zu den Öffnungszeiten der Kirche gibt es im Pfarrbüro unter (0471) 30 85 990.

Karin Dzionara

 


Nachkriegsmoderne

Zu kühl, zu beliebig, zu viel Beton? Nie zuvor wurden so viele Kirchen gebaut wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch diese Gotteshäuser sind längst nicht so beliebt wie die mittelalterlichen Kathedralen. Nun ist man vielerorts dabei, die oft auch verborgene Schönheit moderner Kirchenbauten wieder zu entdecken. Viele von ihnen standen damals für einen religiösen Aufbruch. In einer kleinen Serie stellen wir Ihnen einige spannende Beispiele der Nachkriegsmoderne vor.