Der Apostel Judas
Verräter oder Heiliger?
In den Lesungen erhält Judas selten Aufmerksamkeit. Doch seine Person und seine Beweggründe faszinieren Schriftsteller und Theologen bis heute. War er ein mieser Verräter? Ein zu sehr Glaubender? Oder gar ein Heiliger?
Von Susanne Haverkamp
Was hat Judas nur geritten? Wie wird aus einem Fan ein Verräter? Schon im Neuen Testament sind die Ansichten unterschiedlich. Markus beschreibt den Verrat rein sachlich. Matthäus dagegen bietet eine Bewertung: Judas „reute“ seine Tat, schreibt er. Er habe die 30 Silberlinge in den Tempel geworfen, dann „ging er weg und erhängte sich“ (Mt 27,3–5). Hatte sich Judas die Folgen seines Tuns vielleicht ganz anders ausgemalt?
Lukas versucht eine Erklärung: „Da fuhr der Satan in Judas“, heißt es am Anfang der Passion (Lk 22,3). War Judas also ein treuer Apostel – bis das Böse von ihm Besitz ergriff? Ist er gar nicht wirklich verantwortlich für sein Tun?
Für Johannes hingegen war Judas immer schon ein falscher Fuffziger. Schon früh in seinem Evangelium sagt Jesus: „Einer von euch ist ein Teufel. Er sprach von Judas.“ (Joh 6,71) Später kommt es in Betanien zur Auseinandersetzung mit Maria, die Jesu Füße mit Nardenöl salben will. Judas protestiert: Man hätte den Erlös für das Öl den Armen geben können. „Das sagte er aber nicht, weil er ein Herz für die Armen gehabt hätte, sondern weil er ein Dieb war; er hatte nämlich die Kasse und veruntreute die Einkünfte.“ (Joh 12,3–6)
Und Jesus weiß Bescheid, auch über den bevorstehenden Verrat. Beim Abendmahl sagt er zu Judas: „Was du tun willst, das tue bald!“
Und dann gibt es da noch die heutige Lesung aus der Apostelgeschichte. Mal wieder sind einige Bibelverse über das Schicksal des Judas ausgelassen. Sie lauten so: „Mit dem Lohn für seine Untat kaufte er sich ein Grundstück. Dann aber stürzte er vornüber zu Boden, sein Leib barst auseinander und alle seine Eingeweide quollen hervor. Das wurde allen Einwohnern von Jerusalem bekannt; deshalb nannten sie jenes Grundstück in ihrer Sprache Hakeldamach, das heißt Blutacker.“ (Apg 1,18–19)
Der Verrat des Judas bleibt ein Rätsel
Das klingt ganz anders als bei Matthäus. Nichts von Reue, nichts von Erhängen. Stattdessen eine Investitition und eine – tja, was? – Strafe Gottes? Jedenfalls ein übles Schicksal, das in Jerusalem für Furore sorgte.
Ja, Judas ist ein Rätsel. Deshalb gab es immer wieder Versuche, ihn zu rehabilitieren. „Musste er nicht ...?“, heißt es dann. Hat er nicht einen wichtigen Anteil an der Erlösung? Denn ohne Verrat kein Prozess, ohne Prozess kein Kreuz, ohne Kreuz keine Auferstehung.
Solche Thesen waren bis ins Spätmittelalter im Umlauf. Doch das war eine schlechte Zeit für Unschuldsvermutungen Juden gegenüber. Der Antisemitismus regierte und deshalb verwundert es nicht, dass das Konzil von Trient solchen Spekulationen ein Ende setzte. 1547 beschloss man in aller Form, dass Judas ein mieser Verräter war und ihm keine Entschuldigung oder gar ein Mitverdienst an der Erlösung zukomme. In der Folge wuchs der Hass auf Judas. Und auf die Juden.
Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts erwachte das Interesse an Judas neu. Und das nicht nur in der Theologie, sondern vor allem in der Literatur. Ein so dramatisches und gleichzeitig doch unerklärliches Schicksal wie das des Judas ist für Romanautoren einfach spannend. Zumal die ganze Geschichte erzählerisch irgendwie unlogisch klingt. Schlappe 30 Silberlinge – kann das ein Grund sein? Und warum war der Verrat überhaupt nötig? Jesus hätte jederzeit festgenommen werden können, schließlich hat er sich nicht versteckt. Da muss mehr dahinterstecken!
Ganze Bücher haben Literaten dem Judas gewidmet. Zum Beispiel Walter Jens, der 1975 mit dem „Fall Judas“ für einiges Aufsehen gesorgt hat. Das Buch ist das fiktive Protokoll eines Seligsprechungsprozesses. Ja, Judas soll als Märtyrer seliggesprochen werden. Denn er handelte mit Zustimmung Jesu („Tu, was du tun musst“) im Auftrag Gottes. Judas war der allergläubigste der Jünger, der allertapferste, der sein Leben (und seinen guten Ruf) gering achtete, um die Erlösungstat am Kreuz ins Rollen zu bringen.
Damit stehen die Antragsteller in der Spur früherer Spekulationen um die Heilsnotwendigkeit des Verrats. Der Glaubensanwalt hingegen führt die Gegenargumente an. Wie der Prozess ausgeht? Typisch kirchlich: Da müssen wir weiter nachdenken ...
Ein anderes Beispiel ist Jeffrey Archer. Der britische Autor, der besonders mit historischen Romanen sehr erfolgreich ist, hat – fachlich unterstützt von einem Exegeten des Päpstlichen Bibelinstituts – 2007 das lesenswerte „Evangelium nach Judas“ geschrieben. Seine Theorie: Judas hat erkannt, dass Jesu Auftritt in Jerusalem nur schiefgehen kann. Die Römer, denkt er, können sich einen König der Juden nicht gefallen lassen. Deshalb überredet er einen Schriftgelehrten zu einem Rettungsplan: Die Tempeldiener verhaften Jesus – und lassen ihn später mit der Auflage frei, nach Galiläa zu verschwinden und nie wieder in der Hauptstadt aufzutauchen. Allein: Der Schriftgelehrte hat Judas reingelegt. Er wollte Jesus immer tot sehen – und die gute Absicht des Judas endet in der Katastrophe.
Amos Oz: Steig endlich herab vom Kreuz!
Oder hat vielleicht doch Amos Oz recht? Der jüdische Autor hat 2015 den Roman „Judas“ vorgelegt. Seine Hauptperson Schmuel Asch hat darin folgende Theorie: Judas war der gläubigste aller Apostel. Er lieferte Jesus aus, damit er vom Kreuz herabsteigt. Gerade vor dem Pessahfest, wenn Jerusalem aus allen Nähten platzt: „Sie alle werden sehen, wie du heil und unversehrt vom Kreuz steigst. Dann werden sie auf die Knie fallen und du wirst sagen, liebt einander, und damit beginnt das Himmelreich.“
Amos Oz will Judas damit nicht heiligsprechen, im Gegenteil. Oz schreibt: „Judas hat den Fehler eines Fanatikers gemacht. Er wollte die Erlösung sofort, um jeden Preis. Er konnte nicht warten. Er wollte alles, aber plötzlich: nichts weniger als die universale, endgültige, vollständige, schlechthin innige Erlösung. Und damit hat er zu viel verlangt.“
Ob es so war? „Ich war nicht dabei“, sagt Amos Oz. „Keiner weiß es.“ Aber wenn, dann erinnert mich Judas ein bisschen an uns. An: „Ich will alles und zwar sofort.“ An: „Alles ist machbar!“ An: „Was nicht passt, wird passend gemacht.“ Und an die Versuchung, die auch in unserem Machbarkeitswahn liegt.