Gebetsschule

Vom Kopf ins Herz

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Die gesungenen Gebete in Taizé faszinieren viele Menschen. Frère Timothée erklärt, was ihren Reiz ausmacht, warum die Gesänge die Gemeinschaft stärken und wie sie helfen, besonders eng mit Gott in Kontakt zu kommen.

Foto: KNA-Bild
Andächtige Stimmung: ein junger Mann beim gesungenen Abendgebet in der ökumenischen Brudergemeinschaft von Taizé. Foto: KNA-Bild

 

Taizé ist bekannt für seine gesungenen Gebete mit den kurzen Strophen, die immer und immer wieder wiederholt werden. Was macht diese Gesänge aus?
Ich kann durch die ständige Wiederholung einen Vers aus der Bibel oder der kirchlichen Tradition stark verinnerlichen. Und ich kann auf sehr unterschiedliche Weise dabei sein beim Gebet.

Wie meinen Sie das? 
Ich kann mitsingen, ich kann aber auch einfach nur da sein und zuhören. Ich kann mich mehr einbringen oder weniger. Wenn ich mich wirklich einbringe, dann hat das Singen etwas sehr Aktives. Mein ganzer Körper wird beansprucht: meine Haltung, meine Atmung, meine Aufmerksamkeit. Ich merke, ob ich ganz da bin – oder halt auch nicht.

Gilt all das beim gesprochenen Gebet nicht auch?
Natürlich beansprucht auch das gesprochene Gebet meine Aufmerksamkeit. Aber wie ausdrucksstark ich das Gebet spreche, ist vielleicht weniger entscheidend, und ich mache es mir auch weniger bewusst. Beim Singen hingegen merke ich schnell: Singe ich jetzt irgendwie so vor mich hin? Oder singe ich so, dass ich das Lob, den Dank, die Freude und Klage und alles, was im Text vorkommt, auch wirklich zum Ausdruck bringe? 

Was, wenn ich nicht ganz da bin?
Dann werde ich von der Gruppe getragen. An einem Tag, an dem ich viel geredet habe, habe ich abends vielleicht nicht mehr die Stimme, am kräftigsten mitzusingen. Aber neben mir ist jemand voll dabei und gleicht das aus. Am nächsten Tag ist es womöglich umgekehrt. Es ist bei unseren Liedern wichtig, dass wir aufeinander achten. Und dass wir uns bewusstmachen: Nicht nur jeder allein hat seine Beziehung zu Gott, sondern wir sind gemeinsam unterwegs. Diese Gemeinschaft wird durch das Singen sehr konkret.

Wird das Herz beim Singen mehr angesprochen als beim gesprochenen Gebet?
Das Singen kann das Gebet aus dem Kopf runterholen ins Herz, in den Körper, in den Bauch. Beim gesungenen Gebet denken wir nicht nur über Gott nach und formulieren Worte, sondern wir wollen mit unserer ganzen Existenz vor Gott da sein. Natürlich kann man auch beim gesungenen Gebet in Gedanken versunken sein. Aber das gesungene Gebet kann helfen, sich von den Gedankenwirbeln nicht wegtragen zu lassen.

Warum ist das wichtig?
Ich will unsere Gedanken nicht kleinreden. Aber es gibt ja viele Sorgen und Ängste, die erst mal nur in unserem Kopf existieren. Beim gesungenen Gebet merken wir vielleicht, dass manche dieser Ängste oberflächlich sind und dass unser Leben mehr ist als diese Gedanken. Der Gesang kann uns erden, er kann die Gedanken wieder in einen größeren Kontext setzen. Und je mehr wir nicht nur in Gedanken sind, sondern mit unserem ganzen Leben vor Gott treten, desto mehr sind wir auch mit Gott in Kontakt.

Wie wichtig finden Sie, dass der Gesang schön ist, nicht schief?
Es geht nicht darum, aus dem Gesang eine künstlerisch hochwertige Veranstaltung zu machen. Entscheidend ist, dass etwas zum Ausdruck kommt. Dass wir im Gesang Gottes Gegenwart suchen. Aber natürlich sollte keiner so laut singen, dass seinen Nebenleuten die Ohren wegfliegen. Es ist wichtig, dass sich alle aufeinander einstimmen.
Viele Taizé-Lieder sind weltbekannt, etwa „Laudate omnes gentes“, „Meine Hoffnung und meine Freude“ oder „Bleibet hier und wachet mit mir“.

Welches ist Ihr Lieblingslied?
Ich habe nicht ein bestimmtes Lieblingslied. Es gibt eher Lieder, die in einer bestimmten Situation für mich richtig sind. Ich höre sie, lasse mich auf den Text ein und werde so auf einen Weg mitgenommen. Manchmal habe ich den Eindruck: Der Liedtext passt genau zu meiner Stimmung. Zu dem, was ich zum Ausdruck bringen will. Das sind schöne Momente. Spannend ist aber auch das Gegenteil: Manchmal weiß ich gar nicht, was meine Stimmung gerade ist. Dann schlagen mir die Lieder einen Weg vor, auf den ich mich aufmachen kann.

Viele Menschen sind von den Taizé-Gesängen fasziniert. Was sagen sie Ihnen?
Viele sagen: Das gesungene Gebet schafft einen Raum, in dem man sich willkommen fühlt. Viele finden es auch positiv, dass das gesungene Gebet weniger textgeprägt ist. Dadurch finden sie mehr Freiraum, den Text auch wirklich aufzunehmen und daraus etwas Eigenes zu machen. Und weil er so oft wiederholt wird, können sie ihn noch mal ganz anders in ihr eigenes Leben reinholen. 

Inwiefern?
Beim Gesang können viele Themen hochkommen, auch schmerzhafte Situationen von Tod oder Verlust. Alles, was einen beschäftigt oder belastet. Die Gesänge sind keine reine Wohlfühlgeschichte, und das sollen sie auch nicht sein. In ihnen drückt sich aus, dass unser ganzes Leben vor Gott Platz hat – unsere Freude und auch unsere Trauer.

Interview: Andreas Lesch