Herzen haben Hochkonjunktur

Von der Elbe bis zur Isar

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Lebkuchenherzen Kirmes
Nachweis

Foto: imago/Wolfgang Maria Weber

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„ Aber das Herz ist nun einmal ein Symbol, mit dem Menschen Liebe ausdrücken. Verachtet es nicht! Wer ein Herz zeichnet oder verschenkt, will damit etwas sagen.“

Herzchen überall, wohin man auch schaut. Auf Plakaten, an Gedenkorten und in der Nachrichtenapp auf dem Smartphone. Manche ärgern sich über solche inflationäre Herzlichkeit. Lieber nicht, sagt unser Autor. Denn Herzen sind gut.

„Das Herz von Sankt Pauli, das ist meine Heimat.“ Die alte Platte von Hans Albers. Tausendmal gehört. Aber wo um alles in der Welt ist das Herz von Sankt Pauli? In diesem Viertel gibt es Herzen ohne Ende. „Das Herz von St. Pauli“, so heißt eine Kneipe an der Reeperbahn. Ist sie die Heimat von Albers?  Oder meinte er das konkurrierende Unternehmen „Herzblut St. Pauli“ an der gleichen Straße? Da werden die Drinks mit blutenden Herzen am Strohhalm serviert. Oder schlägt dieses Herz vier Häuser weiter in der „Herz-Hamburg-Bar“? Ich habe das Herz von St. Pauli nicht gefunden. Es gibt einfach zu viele Herzen hier – an jeder Tür, an jedem Schaufenster, an der S-Bahn-Station, auf Bierdeckeln und Klodeckeln: Herzen als Leuchtstoffröhre, Aufkleber, Ohrring oder Kondompackung. Das ganze Viertel scheint auf Herzen abonniert.

Allerdings: Der Hamburger Kiez ist ein herzloses Pflaster im Vergleich zum Münchner Oktoberfest. Dort werden in jedem Jahr eine halbe Million Lebkuchen-Herzen verkauft. Von der Elbe bis zur Isar – Herzen, wohin man kommt. Herzen an den Toilettenhäuschen, als Luftballon oder als Milchschokolade. Herzen auf den Grabsteinen der Friedhöfe. Pflege mit Herz, Frau mit Herz, Schenken mit Herz, Hundeshop mit Herz. Herzlich willkommen, herzliche Grüße, herzliches Beileid, herzlich gelacht!

Das Smartphone verschickt Liebessymbole in allen Farben

Dabei reden wir noch gar nicht von den Millionen von Herzen, die als Piktogramm per WhatsApp oder ähnlichen Messenger-Apps in die Welt geschickt werden. Mein iPhone bietet mir standardmäßig 36 verschiedene Herz-Emojis. Da kann selbst der Oktoberfest-Bäcker nicht mithalten.

Wie viel Herzen braucht ein Mensch wirklich? Ein Herz, das ist die lebensnotwendige Grundausstattung. Zwei Herzen sind wünschenswert, vor allem im Dreivierteltakt. Die Verbindung dreier Herzen geht in den meisten Fällen nicht gut. Es sei denn, man ist Tintenfisch. Diese Tiere haben drei Herzen – und neun Gehirne. Vier Herzen bringen Glück, als Kleeblatt zumindest. Mit dem „Fünf-Herzen-Qi-Gong“ soll man nach einer chinesischen Heilkunst sich selbst regulieren können. „Sechs Herzen, die brennen“, singt die Band Rammstein. Eine Spielkarte mit sieben Herzen muss man nicht haben, weil sie nicht viel sticht. Es sei denn, Herz ist Trumpf. Die Herz-Zehn symbolisiert angeblich die Partnerschaft, die Ehe, die Gemeinschaft, die Zweisamkeit, das Bündnis, die Gemeinschaft. Aber die zehn Herzen auf der Karte sind fast nichts gegen die 270 000 roten und rosa Herzen, die verschiedene Menschen auf eine „National Memorial Wall“ in London gemalt haben.

Was sind allgegenwärtige Zeichen noch wert?

Bei so vielen Herzen – was ist das einzelne Herz da noch wert? Aber halt. Die Inflation der Herzens-Symbole, die industrielle Massenproduktion und die Allgegenwart dieses Symbols mag uns auf die Nerven gehen. Aber das Herz ist nun einmal ein Symbol, mit dem Menschen Liebe ausdrücken. Verachtet es nicht! 

Wer ein Herz zeichnet oder verschenkt, will damit etwas sagen. Die 270 000 Herzen an der Londoner Wand etwa stehen für die Toten der Covid-Pandemie, gemalt von Menschen, denen diese Menschen nahestanden. Die Lebkuchenherzen von der Münchner Wiesn werden in der Regel verschenkt. Wer eines bekommt, erkennt darin das liebende Herz der Geberin oder des Gebers und bewahrt das Herz auf, bis man es nicht mehr essen kann.

Und was ist mit den hunderten von Emoji-Herzen in meinem Handy? Ich sage meinen Kindern: „Traue nie jemandem, der dir hinter eine WhatsApp-Nachricht hundert Herz-Emojis hängt! Traue dem, der dir nur ein Herz schickt!“ Aber selbst da bin ich mir nicht so sicher. 

Andreas Hüser