Flucht nach Italien

Von Trauer und Träumen

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Vor sechs Jahren ist Mohammed aus dem Irak nach Italien geflüchtet. Heute hilft er anderen Migranten bei der Integration. Er will zeigen, dass Menschen auch in schwierigen Situationen ihre Ziele erreichen können.

Foto: kna/privat
Sei umarmt, neue Heimat: Mohammed, Flüchtling aus dem Irak, an einem Strand in der Nähe von Rom. Foto: kna/Privat


Mit Mitte zwanzig schien Mohammeds Leben gut zu laufen. Er war Englischlehrer in Kirkuk und reparierte nebenbei Laptops, auch für die örtliche Polizeistation. „Eines Tages kamen Leute, die sagten: Wenn du uns nicht Informationen über die Bewachung der Gefangenen und Daten von den Polizei-Computern lieferst, töten wir dich“, erzählt der Kurde. Die Männer, die offenbar Terroristen befreien wollten, bedrohten ihn und seine Familie immer weiter; Mohammed musste untertauchen und bereitete seine Flucht nach Europa vor.

Das war 2016. Inzwischen hat er in Italien Fuß gefasst, ist als politischer Flüchtling anerkannt; er studiert, jobbt und hilft anderen Migranten bei der Integration. Seine Heimat, vor allem seine Eltern, vermisst der 33-Jährige sehr. „Aber ich danke den europäischen Ländern, dass sie Geflüchtete aufnehmen und kaum einen Unterschied zur Behandlung ihrer eigenen Bürger machen.“

Mohammeds Geschichte, die er als Freiwilliger des Joel Nafuma Refugee Center in Rom erzählt, gleicht Millionen Schicksalen, über die europaweit diskutiert wird: Menschen besteigen Boote von Schleppern, um Not, Krieg und Verfolgung zu entfliehen – egal, ob sie anerkannten Asylgründen im Westen entsprechen.

Mohammed erzählt: „Manchmal wache ich nachts auf und sehe mich wieder auf dem kleinen Boot von Izmir nach Griechenland, mit 80 anderen. Dann höre ich die Schreie der Ertrinkenden.“ 20 Menschen seien bei der Überfahrt auf dem klapprigen Kahn ertrunken, auch Kinder. „Ich dachte: Wenn ich sterbe, wissen meine Eltern nicht, wo sie mich finden können.“ Rettung kam von Helfern der Vereinten Nationen und dem Roten Kreuz.

In Athen fand Mohammed einen neuen Schlepper, der ihn nach Süditalien schleusen wollte. „Ich klammerte mich unter einem Tanklaster fest, der auf die Fähre fuhr.“ Dort versteckte er sich während der Überfahrt nach Bari. „Da ich keine Papiere hatte, musste ich mich irgendwie zwischen den Touristen durch den Checkpoint mogeln – und hatte Riesenglück!“

In Bari meldete er sich auf der Polizeistation und verbrachte 15 Tage in einem Park. Schließlich lud ihn ein Kurde zu sich ein, gab ihm Kleidung und Essen. „Aber als Erstes konnte ich endlich meine Familie anrufen“, erzählt Mohammed: „Wir weinten vor Glück, dass ich sicher angekommen war. Aber auch vor Trauer.“

Nach seiner Registrierung als Flüchtling wollte Mohammed so schnell wie möglich Italienisch lernen. Übernachten konnte er in einem Caritas-Zentrum. Er fand einen Job als Reinigungskraft. „Nun ja, im Irak habe ich als Lehrer gearbeitet; aber man muss ja Geld verdienen.“ Als er nach neun Monaten, im Sommer 2017, seine Dokumente bekam, fragte er den Richter, ob er auch seine Eltern herholen könne. „Ja, das können Sie!“, sagte der.

Seit zwei Jahren arbeitet Mohammed als Freiwilliger im Joel Nafuma Refugee Center in Rom. Die Tageseinrichtung in der Krypta der anglikanischen Kirche San Paolo entro le Mura wird vor allem von Ehrenamtlichen betrieben, durch Spenden. Mohammed hilft Migranten bei rechtlichen Problemen und der Jobsuche. Außerdem bietet er für die Mitarbeitenden Arabisch an, damit sie ihre Klienten besser verstehen können. Und er vermittelt bei Konflikten unter den Migranten. „Man muss ihre Situation verstehen: Sie haben keine Familie, kein Geld, keinen Job, keinen Platz zum Schlafen. Ich weiß, wie man mit Flüchtlingen spricht – denn das ist mein eigener Hintergrund.“

Darin sieht Mohammed auch seine Zukunft. Seit einem Jahr belegt er einen interdisziplinären Studiengang, in dem es um politische und kulturelle Aspekte von Zuwanderung geht. „Mein großer Traum ist, künftig im Bereich Migration und Menschenrechte zu arbeiten und dafür noch internationale Beziehungen und Diplomatie zu studieren“, sagt er.

Froh ist Mohammed über sein Stipendium des italienischen Innenministeriums für Flüchtlinge. Dazu verdient er bei einer Zimmervermittlung für Studenten und mit dem Übersetzen von Dokumenten etwa 300 Euro im Monat. Seit August vergangenen Jahres genießt der Kurde unbeschränkte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Und als im November endlich die Zusage der italienischen Behörden kam, seine Eltern nachholen zu dürfen, schien sein Glück perfekt zu sein.

Sein Vater ist seit 1981 halbseitig gelähmt

Doch dann bekamen seine Eltern statt der Ausreisedokumente im italienischen Konsulat in Erbil einen Ablehnungsbescheid. Der Vater habe nicht nachgewiesen, dass er krank ist. Dabei sei er seit einer Bombenexplosion 1981 im Iran-Irak-Krieg halbseitig gelähmt. „Ich habe dem Konsulat gemailt, dass das doch unübersehbar sei“, sagt Mohammed. 

Ob die plötzlichen Probleme mit Italiens neuer Regierung zusammenhängen könnten, mag Mohammed nicht beurteilen. Dass die postfaschistische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Migranten fernhalten will, hat sie erst kürzlich wieder betont. 
Mohammed hat gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt. „Niemand ist sicher im Irak, schon gar nicht als Kurde“, sagt er. Und gibt nicht auf: „Ich möchte der Welt zeigen, dass selbst ein Mensch in einer schwierigen Situation seine Träume wahr machen kann. Und auch, dass Migranten nicht so schlecht sind, wie manche denken.“

kna