Der Lobgesang Mariens
Von wegen brav
Der Lobgesang Mariens ist ein sehr bekanntes Evangelium. Zum einen, weil er Eingang ins Stundengebet der Kirche gefunden hat. Zum anderen, weil Frauen in aller Welt mit diesem Text zeigen: Maria war eine starke, selbstbewusste Frau.
Von Susanne Haverkamp
Das 19. Jahrhundert hat unsere Kirche entscheidend geprägt. Die Pfarreienstruktur, katholische Verbände, die Unfehlbarkeit des Papstes – alles Ergebnisse der sozialen und politischen Umbrüche. Das 19. Jahrhundert wird aber auch Marianisches Jahrhundert genannt. Ordensgründungen, Wallfahrten, Feste – eine Blütezeit der Marienverehrung.
Das 19. Jahrhundert war hingegen keine gute Zeit für selbstbewusste Frauen. Still und demütig hatten sie zu sein, fleißig und gehorsam, rege Hände, leiser Mund. Höhere Bildung, Studium, Wahlrecht – all das kam später. Es ist deshalb kein Wunder, dass auch die Mutter Jesu in dieser Zeit ausschließlich so gesehen wurde: als Magd des Herrn, als leidende Mutter, als demütige und stille Frau. Dabei gibt es auch diese ganz andere Seite Mariens und der Besuch bei Elisabet, von dem der Evangelist Lukas erzählt, zeigt sie besonders deutlich.
Maria mag etwa 14 Jahre alt gewesen sein, als all das geschah. Als sie, verlobt mit einem älteren Mann, schwanger wurde. Als sie Gottes Willen in dieser Schwangerschaft erkannte – und trotzdem mit dem Gerede und den vernichtenden Blicken der Nachbarn umgehen musste. Vielleicht setzte sie sich deshalb nach Jerusalem ab, zu ihrer Cousine Elisabet, die ebenfalls ein Kind erwartete. Wäre nicht das erste Mal, dass man eine ungewollt Schwangere bei der Verwandtschaft aus der Schusslinie bringt.
Deshalb wäre es auch normal gewesen, wenn dieses junge schwangere Mädchen sehr zurückhaltend auftreten würde, dort, bei der Verwandtschaft. Aber das tut sie nicht, erzählt Lukas. Gleich nach der Begrüßung bricht es aus ihr heraus – und zwar in bester Prophetinnen-Tradition.
In der Tradion starker jüdischer Frauen
Denn auch das muss man bedenken: Die jüdischen Frauen des Alten Testaments waren durchaus anders als die deutschen Frauen des 19. Jahrhunderts. Da ist zum Beispiel Marias Namenscousine Mirjam. Sie war die Schwester des Mose, aber auch nicht gerade still. „Fürwahr, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt und dich freigekauft aus dem Sklavenhaus. Ich habe Mose vor dir her gesandt und Aaron und Mirjam“, sagt Gott beim Propheten Micha (6,4). Als die Flucht aus Ägypten gelungen ist, führt sie die Party an: „Die Prophetin Mirjam nahm die Pauke in die Hand und alle Frauen zogen mit Paukenschlag und Tanz hinter ihr her. Mirjam sang ihnen vor: Singt dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben! Ross und Reiter warf er ins Meer.“ (Exodus 15,20–21). Gott erkennt das an: Mirjam darf ihm im Offenbarungszelt begegnen, gleichberechtigt mit Mose und Aaron (Numeri 12,4)
Oder Judith: Als die Männer im Kampf gegen die Feinde versagen, ergreift sie die Initiative und schlägt dem feindlichen Heerführer Holofernes den Kopf ab; ein ganzes biblisches Buch ist nach Judith benannt. Genau wie nach Ester, dem jüdischen Mädchen, das überraschend zur persischen Königin aufsteigt und ihr Volk vor Verfolgung rettet. Oder Debora, die als Richterin das Volk Israel anführt (Richter 4).
Oder Hanna. Lange Jahre unfruchtbar, bringt sie nach Gebeten und Gelübden Samuel zur Welt. Und singt daraufhin ein Lied, das sehr an den Lobgesang Mariens erinnert:
Mein Herz ist voll Freude über den Herrn. Weit öffnet sich mein Mund gegen meine Feinde; denn ich freue mich über deine Hilfe ... Die Satten verdingen sich um Brot und die Hungrigen gibt es nicht mehr. Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder und die Kinderreiche welkt dahin ... Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und er erhöht. Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt ... (1 Samuel 2,1–8).
Ähnlich selbstbewusst singt Maria. Davon, dass Gott Großes an ihr getan hat und sie von nun an einen Platz unter den großen jüdischen Frauen beansprucht. Starke Worte für eine 14-Jährige.
Zudem denkt Maria nicht nur fromm, sondern politisch. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen ... Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Ein bisschen klingen da die späteren Seligpreisungen ihres Sohnes an: „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Denn die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten.“
Was Maria in ihrem großen Lob singt, das hat einen revolutionären Ton: Gott steht aufseiten der Armen und Machtlosen, die Reichen und Mächtigen wird er verstoßen. Genauso haben Amos und Hosea gesprochen, die großen männlichen Propheten der sozialen Gerechtigkeit.
Diese laute Seite der Mutter Jesu wurde lange vergessen. Wiederentdeckt haben sie Frauen und Männer in den armen Ländern der Erde, in Lateinamerika, in Asien, in Afrika. Frauen und Männer, die genug davon haben, von der herrschenden Klasse unterdrückt zu werden, zu hungern und leer auszugehen. Für sie ist Maria nicht nur die Pietà, die weinende Mutter; für sie ist Maria die starke Frau, die den lauten Protest anführt. Maria, sagt die argentinische Theologin Virginia Azcuy, ist „ein Symbol der Befreiung“, eine Begleiterin auf dem Weg zum Reich Gottes, eine Frau aus dem Volk an der Seite der Armen.
Sie setzt ihr ganzes Vertrauen auf Gott
In dieser Tradition steht wohl auch die Bewegung „Maria 2.0“, die sich sehr bewusst nach der Maria des Magnificat benannt hat. Manche sagen, damit werde die Person Marias missbraucht; andere sagen, sie werde nicht weniger missbraucht, wenn sie nur als demütige Dulderin dargestellt wird.
Entscheidend ist wohl die Erkenntnis, dass Maria eine fromme Frau war, die ihr ganzes Vertrauen auf Gott setzt. Die Maria des Magnifikat weiß, dass nur Gott das vollbringen kann, was sie in ihrem Lied besingt. Dass die Schritte zur Befreiung schlussendlich Gottes machtvolle Taten sind – auch wenn sie nicht vom Himmel fallen, sondern ganz irdisch erkämpft werden müssen. Kampf ohne Gebet ist nicht im Sinne der singenden Maria. Gebet ohne Kampf aber auch nicht.