Das Lieblingslied von Thomas Blecker

Wachet auf, ruft uns die Stimme

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Organisten aus dem Bistum Hildesheim stellen ihr Lieblingslied der Advents- und Weihnachtszeit vor. Für Thomas Blecker, Organist in der Pfarrgemeinde St. Cäcilia Harsum, ist es das Lied: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (Gotteslob Nr. 554).

"Wachet auf, ruft uns die Stimme" aus op. 135a von Max Reger in der Interpretation von Lukas Speer an der Orgel im Hildesheimer Mariendom.

 

Vermutlich im Jahr 1597, zur Zeit der Pest, schreibt Philipp Nicolai (1556 – 1608), damals Pfarrer in Unna und später Hauptpastor an St. Katharinen in Hamburg, das Lied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. In diesen Jahren der Pest gibt es an manchen Tagen bis zu 30 Beerdigungen. Philipp Nicolai schreibt zum Trost ein Buch mit dem Titel „Freudenspiegel des ewigen Lebens“. Dort findet sich das Lied im Anhang, u. a. neben dem bekannten Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. In der uns vorliegenden Druckvorlage findet sich dazu folgende Überschrift: „Ein anders von der Stimm zu Mitternacht/ und von den klugen Jungfrauen/ die ihrem himmlischen Bräutigam begegnen/ Matth. 25“. Eigentlich ist Nicolai ein äußerst streitbarer, lutherischer Pfarrer, der sowohl mit Calvinisten als auch mit Katholiken in jener Zeit nicht gerade zimperlich umgeht, bis hin zu überlieferten Handgreiflichkeiten.

Aber die Pest lässt plötzlich die Welt in einem anderen Licht erscheinen. Trost, Hoffnung und Zuversicht stehen an erster Stelle, der Blick richtet sich auf das Jenseits, auf eine Welt im himmlischen Jerusalem. Diese konkrete Erwartung eines hoffnungsvollen Endes, vor allem auch der schlimmen Pestkatastrophe, mischt sich mit der theologischen Erwartung der Wiederkunft Christi, die im Zentrum der liturgischen Texte in der Adventszeit steht.

So geht es in der 1. Strophe um den Bräutigam, eine Metapher für Christus, auf dessen Kommen man jederzeit eingestellt sein sollte. Die 2. Strophe greift auf den Propheten Jesaja zurück, der bereits im Alten Testament auf das Kommen des Messias hinweist. In der 3. Strophe schließlich sind wir bereits im Freudensaal angekommen, in der himmlischen Stadt Jerusalem, die in der Offenbarung des Johannes beschrieben ist.

In selten gekonnter Weise spannt das Lied den Bogen vom alttestamentlichen Propheten Jesaja über das Matthäus-Evangelium bis hin zur Offenbarung des Johannes.

Diese Genialität findet sich auch in der Melodie des Liedes wieder, welche eigentlich für die Gemeinde gar nicht einfach zu singen ist. So beginnt die Melodie fast fanfarenartig in Dreiklangschritten aufwärts und umfasst eine Dezime, was eher ungewöhnlich ist. Die höchsten Töne beschreiben auch im Text die Höhe: „hoch auf der Zinne“ sowie auch die „Hoch-zeit“. Damit wirkt das Lied sogar fast ein wenig heroisch, der „Held Christus“ besiegt schließlich alle irdischen Plagen, wenn er am Ende der Zeiten wiederkommen wird.

Für mich musikalisch unübertroffen ist die Einbettung dieses Textes in die Kantate „Wachet auf“ von Johann Sebastian Bach (BWV 140), aus welcher der berühmte Orgel-Trio-Satz, der „Schübler-Choral“ über Wachet auf (BWV 645), stammt. Beide Werke verstehen es in musikalisch beeindruckender Weise, die Schwierigkeiten des irdischen Daseins mit der Erwartung eines vollendeten himmlischen Jerusalems zu verbinden.

Daher gehört dieses Lied für mich unverzichtbar in diese Zeit, an das Ende des alten und den Beginn des neuen Kirchenjahres. Kein anderer Text kann diesen Bogen vom Anfang bis zum Ende so spannen, wie dieser Text von Philipp Nicolai und die Kompositionen Johann Sebastian Bachs.