Ethiker zu radikalen Protestformen von Klimaschützern
Wann ist der Bogen überspannt?
Die Protestaktionen der Klima-Aktivisten der "Letzten Generation" werden radikaler. Nach dem Unfalltod einer Radfahrerin in Berlin wurde Aktivisten eine Mitschuld gegeben: Ihre Aktion habe den Rettungsweg blockiert. Der Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl über die ethischen Grenzen von Protestaktionen.
Herr Professor Lob-Hüdepohl, wann braucht es Protestaktionen von zivilem Ungehorsam?
Das kann man so pauschal nie sagen. Ziviler Ungehorsam ist moralisch legitim, um als letztes Mittel gegen schwerwiegende Ungerechtigkeiten zu protestieren und auf eine Änderung der Regierungspolitik hinzuwirken. Es besteht für mich kein Zweifel, dass die durch unseren Lebensstil verursachte Klimaveränderung einen schweren Verstoß gegen die Gerechtigkeit darstellt. Und zwar international wie mit Blick auf die zukünftigen Generationen. Ob ziviler Ungehorsam in Form von Straßenblockaden hier schon das letzte Mittel ist, kann unterschiedlich beurteilt werden. Ich meine allerdings: grundsätzlich Ja.
Wo sind die ethischen Grenzen solcher Proteste?
Solche Proteste müssen grundsätzlich gewaltfrei sein: keine Gewalt gegen Sachen und vor allem keine Gewalt gegen Personen. Und zwar weder unmittelbar noch mittelbar. Auch wenn sie politisch gegen manche Gesetze verstoßen dürfen - ungenehmigte Blockaden hindern ja andere in ihrer Bewegungsfreiheit -, dann dürfen sie nie die öffentliche Ordnung insgesamt gefährden.
Was sind Kriterien für legitime Protestaktionen? Wir haben ja unterschiedliche Formen: Kartoffelbrei auf Kunst, Beschmieren von Parteizentralen, Festkleben auf wichtigen Straßen.
Ein paar Kriterien habe ich ja schon genannt: Gewaltfreiheit, Angemessenheit, im Rahmen unserer Verfassungsordnung, was einschließt, gegebenenfalls auch die verhängte Strafe für den Regelverstoß zu akzeptieren. Kartoffelbrei auf Kunst und das Beschmieren von Parteizentralen sind Sachbeschädigungen. Ob sie strafrechtlich von Belang sind, müssen im Fall der Fälle Gerichte prüfen.
Mein Problem dabei ist aber: Stehen diese Protestformen in einem unmittelbaren Zusammenhang zu dem, wogegen man sich richtet? Da habe ich erhebliche Zweifel. Kurzzeitig Straßen zu blockieren macht grundsätzlich Sinn. Eine überbordende Automobilität trägt erheblich zu den Klimaproblemen bei. Ob ausgestellte Kunstwerke oder die Existenz von Parteizentralen dazu beitragen, ist doch sehr fraglich. Nachvollziehbarer wäre eine Sitzblockade vor den Eingängen in die Parteizentralen. Dann müssten die mit den Protestaktionen Adressierten symbolisch über die Demonstrierenden stolpern.
Sind Protestaktionen nur so lange legitim, wie sie die Sympathien einer Mehrheit der Bevölkerung genießen?
Nein, natürlich nicht. Protestaktionen sind als Meinungsäußerung betroffener Menschen grundsätzlich legitim - egal, ob sie mit Sympathien rechnen können oder nicht. Im Gegenteil, Protestaktionen müssen auch mal stören. Ansonsten würden sie ja wirkungslos bleiben. Allerdings muss eine Protestaktion so gestaltet sein, dass sie von der Bevölkerung verstanden werden kann.
Kippt es, wenn mehr über die Aktion an sich, als über das Motiv und den dahinterstehenden Inhalt gesprochen wird?
Wenn das eintritt und sich verstetigt, hat man schon verloren. Allerdings stehen wir alle in der Verantwortung, uns mit den Inhalten der Protestaktionen auseinanderzusetzen. Mich stört ungemein, dass interessierte Kreise sich nur auf die Aktionsformen stürzen. Natürlich kann und muss man auch diese kritisieren dürfen. Wenn man aber darüber die Inhalte beiseiteschiebt, lenkt man nur von den schwerwiegenden Versäumnissen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ab.
Der Fall einer überfahrenen Berliner Radfahrerin sorgte bundesweit für Entsetzen und Empörung. Der Vorwurf lautete: Durch Aktivisten der "Letzten Generation" sei der Rettungswagen maßgeblich behindert worden, sie hätten den Tod der Frau in Kauf genommen. Die Grünen-Politikerin Renate Künast sagte, jetzt habe die Initiative ihre Unschuld verloren. Teilen Sie die Einschätzung?
Renate Künast befürchtet, dass die Aktionen in eine Sackgasse geraten sind und damit ihre Wirkungen verfehlen. Diese Befürchtung teile ich. Dass die Protestierenden den schrecklichen Tod der verunfallten Fahrradfahrerin mehr oder minder bewusst in Kauf genommen hätten, ist eine starke Behauptung, die nicht unmittelbar überzeugt.
"Tagesspiegel"-Recherchen zeigten, dass sich schwer nachprüfen lässt, wie stark der Einsatz des Rettungswagens tatsächlich durch die Aktion behindert wurde, da es auf der Strecke häufig Stau gibt. Seit der Aktion sieht sich die "Letzte Generation" verschärft attackiert, vor allem in Sozialen Netzwerken. Aber auch von den Medien sehen sie sich an den Pranger gestellt und sprechen von einer "Welle der Vorwürfe, Unwahrheiten und Hetze". Wie sehen Sie das?
Nach den Recherchen des Tagesspiegels ist der Rettungswagen mit einer Verzögerung von etwa sieben Minuten am Unfallort eingetroffen. Die von einem LKW überrollte Fahrradfahrerin war da offensichtlich schon geborgen. Vorausgegangen war keine Straßenblockade, sondern die Besetzung einer Schilderbrücke durch zwei Protestierer. Diese führte zur Sperrung von zwei der drei Fahrstreifen. Das verstopfte den ohnehin staugeplagten Autobahnabschnitt vollends. Dazu kam, dass die Rettungsgasse für das Einsatzfahrzeug erst gebildet werden musste.
Wir haben es mit einer Verkettung vieler unglücklicher Umstände zu tun. Ob das verspätete Eintreffen des Rettungswagens und damit vielleicht indirekt die Protestaktion zum Tod der Frau geführt haben oder nicht, klären Staatsanwälte und Gerichte. Und das ist richtig so. Ich beklage zunächst eine weitere Fahrradtote auf den vollen Straßen meiner Stadt. Darauf sollte sich die öffentliche Aufmerksamkeit mindestens ebenso richten.
kna