Anfrage
Warum sollen die Jünger schweigen?
Ihre Frage haben schon viele gestellt und viele Bibelwissenschaftler haben sie unterschiedlich beantwortet. Ich präsentiere Ihnen hier die aktuelle Mehrheitsmeinung.
Das häufige Schweigegebot gibt es nur bei Markus. Deshalb muss man davon ausgehen, dass es ein Konstrukt dieses Evangelisten ist. Bei ihm verbietet Jesus nicht nur Geheilten und seinen Jüngern, von Wundern, Erscheinungen oder eigenen Erkenntnissen zu erzählen („Simon Petrus antwortete ihm: Du bist der Christus! Doch er gebot ihnen, niemandem etwas über ihn zu sagen“; Mk 8,30). Er spricht auch selbst in Rätseln und erschließt seine Verkündigung nur im kleinen Kreis. Doch selbst dieser kleine Kreis der Jünger versteht ihn oft nicht.
Die Exegese erklärt das so: Markus schreibt sein Evangelium für Heidenchristen, also für Menschen, die nicht vorher Juden waren. Ihnen will er erklären, warum Jesu eigenes Volk, die Juden, ihn in ihrer weit überwiegenden Mehrheit nicht als Messias erkannt haben. Weshalb sie zwar seine Machttaten gesehen, seine Worte gehört, aber seine Bedeutung nicht verstanden haben. Der Grund: Es war eben nicht so einfach. Zu Jesu Lebzeiten war vieles rätselhaft und sollte es sein; erst nach seiner Auferstehung erscheint alles in einem anderen, einem deutlicheren Licht.
Unmöglich, Jesus richtig zu deuten, war es indes nicht. Denn „je mehr er es ihnen verbot, desto mehr verkündeten sie“ (Mk 7,36). Dass die Mehrheit seines Volkes Jesus dennoch ablehnte, lag also an ihrer „Verstocktheit“ (Mk 3,5) – eine Lösung, mit der auch sonst missionarischer Misserfolg gern erklärt wird.
Umso heller leuchtet das Licht der Gemeinde, für die Markus schreibt. Sie sieht alles vom Ende her, von der Auferstehung. Ihr Prototyp ist der heidnische Hauptmann, der als einer der Ersten bekennt: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ (Mk 15,39) Gerade die Verstocktheit Israels und das Sich-Entziehen Jesu gegenüber seinen Zeitgenossen erweckt den Eindruck, als sei die durch das Geheimnis geschützte Erkenntnis gerade ihnen, den Heidenchristen, vorbehalten.