Ethik-Eck: Pastorale Innovation?!
Was berührt, wird bleiben
Foto: adobestock / Brigitte Bonaposta
30 Jahre zu spät
Also mit Verlaub: Die Fragestellung klingt schon ein bisschen ironisch bis polemisch. Da möchte man fast auf gleichem Niveau antworten, dass es doch gut sei, endlich kirchlich keine „toten Gäule“ mehr zu reiten…
Aber ernsthaft: Wir brauchen dringend „Pastorale Innovation“, und das eigentlich schon seit 30 Jahren! Beziehungsweise wir hätten sie damals gebraucht. Heute ist dieser „Zug“ vielleicht „schon abgefahren“. Der wichtigste Schritt dabei wäre die umfängliche Befähigung und Beauftragung Ehrenamtlicher zu allem Kirchendienst, der ihren Charismen (ihren Gaben und Eigenschaften) entspricht. Vorausgesetzt, das Weiheamt (die Priester) und das Hauptamt (die Pastoralen Mitarbeiter:innen) ließen sie dann auch bevormundungsfrei, gleichzeitig von ihnen gut motiviert und begleitet agieren. Und zwar nicht als „Ersatzspieler“ für Hauptamtliche, sondern in ihrem authentischen christlichen Dienst in der Kraft des Heiligen Geistes. Und weiterhin vorausgesetzt, Ehrenamtliche versteckten sich nicht länger in selbstgewählter Unmündigkeit hinter den Hauptamtlichen, was sie zuweilen gerne tun …
Sie wären dann die berufenen Träger:innen aller Dienste – auch in der Liturgie –, für die man keine geweihten Personen und keine professionellen Theolog:innen braucht. Damit wären die Kreuzweg- und Totenandachten und vieles sonst an traditionellen Formen, wo sie denn noch gefragt sind, weitgehend gesichert.
Aus meiner Sicht haben wir viel zu lange immer nur unsere vorhandene Klientel bedient. Wer neu dazukommen wollte, musste sich in die alten Traditionen eingliedern. Wir durften den vorhandenen Mitgliedern nichts Neues zutrauen oder zumuten, damit wir gleichzeitig missionarisch auch neue Menschen, andere Generationen und Milieus hätten erreichen können.
Das ist ungefähr so, als dürften die Enkel – um dabei sein zu dürfen – nur Klamotten im Stil der Großeltern tragen und auch nur ihre Musik hören.
Wer mir jetzt vielleicht entgegenhalten möchte, wir hätten doch zum Beispiel das „neue geistliche Lied“, der bestätigt genau meine These: NGL ist unsere Musik, und wir sind inzwischen die Großeltern! In 40 Jahren haben wir in kirchlich-repräsentativer Breite außer diesen NGL und vielleicht „Taizé-Gottesdiensten“ kaum Erneuerung (Innovation) zustande gebracht.
Wer aus meiner subjektiven Sicht (Bistum Limburg) gerne meine paar wenigen guten Beispiele erfahren möchte, schreibe mir bitte: mail@heroks.de Am besten aber fragen Sie einmal Ihre Kinder und Enkel, die mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit keine Kirchgänger:innen sind, was sie für Angebote religiösen Lebens gebraucht hätten, um sich vielleicht für Kirche zu interessieren.
Was berührt, wird bleiben
Ja, stimmt: Es wird viel experimentiert und ausprobiert. Jugendkirche, Kulturangebote, ein mobiles Kaffee-Mobil auf Flohmarkt und Spielplatz, Impulse während des Wanderns und Waldbadens, aber auch Mittagsgebet beim Markt, offene Kirche mit einem Gesprächspartner in der Bank, der ansprechbar ist. Schon länger ist Pilgern der Renner und die Auszeit im Kloster.
Ja, stimmt auch: Traditionelles fällt weg, manche Andacht verschwindet, die vertraute Gottesdienstordnung ist ausgedünnt.
Es sind so viele Veränderungen: weniger Mitglieder, weniger Engagierte, halbleere Kirchen. Immer mehr Menschen, die nicht oder nicht mehr spüren, was das ist: Glauben. Und die nicht so recht wissen, für was die Kirchen da sein könnten. Innerhalb und außen gibt es viel Verunsicherung und viel Suchen. Und das trifft sich mit Ängsten und unsicheren Zeiten gesellschaftlich und weltweit.
Da sagen manche: Wir wollen was Neues probieren. Wenn Menschen nicht zu uns kommen, dann gehen wir dahin, wo sie sind. Und bieten etwas an: Freundlichkeit, Kontakt, Zuhören, vielleicht einen Musikgenuss, einen Kaffee – und zeigen was davon, warum wir glauben und was wir hoffen.
Und wir engagieren uns gemeinsam mit anderen, die auch unterwegs sind. Um etwas für die Erhaltung der Schöpfung zu tun, für eine bessere Nachbarschaft, gerechtere Verhältnisse.
Wenn Kraft und Ideen in etwas Neues gehen, wird notwendig Altes aufgegeben. Wenn ich losgehe , drehe ich anderem den Rücken zu. Wenn ich weitergehe, trenne ich mich von etwas. Das kann nicht anders sein.
Aber es ist auch schmerzhaft, wenn gute Tradition schwindet. Es fordert denen, die mit dem Alten verbunden sind, viel ab. Weil das, was nicht weitergeht, zu den Schätzen ihrer Lebenserfahrungen gehört und kostbar ist.
Besonders schmerzhaft ist es bei allem, was Wesentliches berührt. So bei allem rund um Sterben und Begräbnis. So kann es passieren, dass Menschen sich verletzt fühlen.
Gut ist, dass es auch in diesem Bereich viele Initiativen gibt. Und eine neue Aufmerksamkeit und Respekt für die Trauer in all ihren Formen. Trauercafés und Trauerbegleitungen entwickeln sich, Gottesdienstformen, in denen allen Toten der letzten Wochen gedacht wird und alle Namen genannt werden.
Klar: Nicht alle Experimente und Versuche gelingen. Manches wird wieder verschwinden, anderes sich weiterentwickeln, manches wird tragen. Was Menschen berührt und im Glauben stärkt, wird bleiben.
Hoffentlich werden dann auch die wieder heimisch, denen Veränderung eine Zumutung ist.
Perspektive wechseln
Was ist richtig? Eine wichtige ethische Frage. Eine Spur hin zu einer Antwort legt eine Fähigkeit, die in Beziehungen wesentlich ist. Und die auch bei ethischen Fragen helfen kann. Es ist die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.
Um zu verstehen, welche Wünsche, Erwartungen, Vorstellungen ein anderer Mensch hat. Perspektivwechsel heißt das. Der funktioniert in zwei Richtungen: Ich übernehme die Perspektive des anderen und biete zugleich meine eigene Perspektive an. Ohne diese Fähigkeit funktioniert soziales Miteinander nicht. Ein solcher Perspektivwechsel zeigt: Die individuellen Bedürfnisse von Gläubigen sind verschieden. Die einen brauchen
Rosenkranzandachten oder sonntägliche Eucharistiefeiern. Andere wünschen sich Angebote für Eltern mit Kleinkindern. Und wieder andere brauchen moderne Formen, die den Glauben ins Heute transportieren. Der Perspektiv-wechsel lässt verstehen, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche seelsorgliche Angebote brauchen.
Das war übrigens schon immer so. Die ersten Christinnen und Christen feiern privat in Häusern Gottesdienst. Essen zusammen, helfen einander. Für ihre Art zu glauben brauchen sie keinen Priester und keine Kirchengemeinde. Die Glaubenden organisieren ihre Glaubensformen selbst.
Der Perspektivwechsel hilft auch hier. Wenn mich bestimmte Angebote nicht ansprechen oder ich etwas vermisse, dann kann ich – wie die ersten Christinnen und Christen – selbst aktiv werden. Dann kann ich die Totenandacht für den verstorbenen Nachbarn selbst anbieten. Zusammen mit anderen kann man sich im Haus des Toten treffen und gemeinsam beten, singen.
Perspektivwechsel heißt auch: Warum nicht einfach beim absichtslosen Kaffeetrinken mitmachen? Gucken, wie das abläuft. Und feststellen,
ob das auch was für einen selbst wäre. So wie irgendwann einmal Kreuzweg- und Totenandacht erfunden wurden, so werden vielleicht im Moment neue Formen für den altgewohnten Glauben erfunden. Und es stellt sich dann schnell heraus, wie richtig diese sind.