Missbrauchsbetroffene: Ein Gastbeitrag

Was geschieht, ist ein Schlag ins Gesicht

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Die Art, wie die Kirche auf Missbrauchsopfer zugeht, wird von vielen kritisiert. Umstritten sind auch die Zahlungen, die erlittenes Leid kompensieren sollen. In einem Gastbeitrag meldet sich ein Betroffener zu Wort. Von Dr. Michael Belzer



Ein „lebensveränderndes Zeichen“ an die Betroffenen wünscht sich Michael Belzer von den Verantwortlichen der Kirche – nach dem Vorbild des wunderbaren Handelns Jesu.


Bevor ein Betroffener, ein Opfer sexueller Gewalt durch einen Vertreter der katholischen Kirche, als Opfer anerkannt wird, muss er sich entblößen gegenüber einer ihm unbekannten Kommission, der UKA („unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leids“). Ihr muss er schildern, wann was wie und wie schmerzhaft geschehen ist. Wer in dieser Kommission sitzt, erfährt der Betroffene nicht persönlich von der Kirche, sondern muss es selbst recherchieren. Es ist für diesen Betroffenen so, wie man es aus einem Krimi im Fernsehen kennt: Da findet ein Verhör statt – und eine unbekannte Anzahl von Zuhörern steht hinter einer verspiegelten Scheibe. Wohlgemerkt: Es ist das Verhör des Opfers. Das ist die erste Zumutung für einen traumatisierten Menschen auf dem Weg der Anerkennung als Opfer. Es ist nicht die letzte.
Was geschieht durch diese Form der „Anerkennung“ mit der Kirche selbst, mit dem Glauben, mit der Gemeinschaft in der Nachfolge Christi? Diesen Fragen möchte der Autor, selbst Betroffener und Jahrzehnte lang theologischer Mitarbeiter der Kirche, im folgenden nachgehen. Er ist Mitglied im gemeinsamen Betroffenen-Beirat der drei Bistümer Limburg, Mainz und Fulda und Mitglied in der Aufarbeitungskommission des Bistums Mainz.

Die Kirche ist mehr als eine gesellschaftliche Größe oder juristische Person                                                              
Die Kirche ist nicht nur eine gesellschaftliche Größe oder eine juristische Person, sondern versteht sich selbst als eine geistliche Größe (sehr nachhaltig beschrieben im Konzilsdekret Lumen Gentium Nr. 8). Es wäre danach falsch, allein nach juristischen Gesichtspunkten das Fehlverhalten kirchlicher Amtsträger zu beurteilen. Falsch wäre es ebenso, Befriedung zwischen der Kirche und den vielen Betroffenen allein nach juristischen sowie psychologischen Gesichtspunkten aufzurechnen beziehungsweise zu suchen. Auch psychologische Kriterien allein genommen greifen zu kurz, um das tiefere Wesen der kirchlichen Gemeinschaft zu erfassen.
Beide  Perspektiven  –  die  juristische wie die psychologische Sichtweise – sind in der UKA („unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leids“) ausreichend vertreten. Eine theologische Perspektive fällt dabei völlig unter den Tisch. Will die Kirche ernsthaft mit dem Anerkennen des Leids zur Befriedung beitragen, so bedarf es unbedingt auch einer vertieften theologischen Sichtweise.  
Ein Kind, vielleicht ein Jugendlicher oder junger Heranwachsender befand sich auf dem Weg zum Glaubenden, als ihm/ihr Furchtbares widerfahren ist. Er befand sich auf demselben Weg, wie ihn die Kirche vorsieht, begleitet über Taufe, Erstkommunion bis hin zur Firmung. Wie kann dieser Mensch, dem sexuelle Gewalt von einem Priester, kirchlichen Lehrer oder anderen Amtsträger angetan wurde, je in seinem Leben aus tiefster Überzeugung in der Eucharistiefeier mitbeten, wenn es im Credo heißt: „Ich glaube an die heilige katholische und apostolische Kirche“? Kann er je zu einer solchen Haltung gegenüber der Institution Kirche zurückfinden, einen solchen Satz frohen Herzens aussprechen?
Dass die katholische Kirche sich in diesem Kontext bewusst auf juristische Aspekte zurückzieht, verwundert umso mehr, da sie in anderen virulenten Fragen – etwa der Frauen- und Ämterfrage – großen Wert legt auf die geistliche Tradition, das göttliche Recht und die lehramtliche Hierarchie der Wahrheiten, und sich keineswegs einzig und allein gebunden fühlt an allgemeines Menschenrecht oder Vorgaben des Grundgesetzes.

Das bisherige Verfahren verkennt den seelischen Schaden völlig
Was steht einer geistlichen Gemeinschaft gut zu Gesicht, wenn es um die Anerkennung von institutionell verankerten Taten geht wie bei den aufzuarbeitenden sexuell motivierten Missbrauchstaten? Sind die jetzt geschaffenen Anerkennungszahlungen sowie die übrigen Hilfen ausreichend? Sind sie hilfreich? Und sind sie angemessen? Nein, sie sind ein Schlag ins Gesicht eines jeden Betroffenen. Sie verhöhnen die Opfer sexueller Übergriffe und reißen Narben wieder auf. Zu diesem Schluss kommen viele Betroffene, die schon lange auf eine Entschuldigung warten, die ihnen auch persönlich entgegengebracht werden sollte.
Um eine wirkliche Befriedung zwischen Betroffenen und der Kirche zu erlangen, bedarf es tiefergehender Wiedergutmachungen als bloße Anerkennungszahlungen analog einer Verletztentabelle, wie sie bei Unfallversicherungen oder dergleichen angewandt werden.
Ein solches Verfahren verkennt die tatsächliche Kränkung sowie den seelischen Schaden völlig. Es verkennt auch die Schäden, die durch diese Tat am inneren Wesen der Kirche selbst und in ihrem Verhältnis zu dem einzelnen missbrauchten Gläubigen entstanden sind. Wenn ein kindliches oder jugendliches Leben derart geschädigt wurde, Narben über Jahre und Jahrzehnte ohne Entschuldigung, ohne Anerkennung weiter schmerzen und es keine Aussicht auf Bestrafung der Beschuldigten gibt, so kann eine einmalige Zahlung eines vierstelligen Betrags ein solches verpfuschtes Leben niemals wieder gut machen oder eine Befriedung einleiten. Doch das sollte der Anspruch der Kirche sein – eine ganzheitliche Befriedung anzustreben.

Notwendig sind großherzige Gesten und lebensverändernde Zeichen
Hier driftet Anspruch und Wirklichkeit von Kirche weit auseinander. Eine Vertrauenskrise wie im Falle von Missbrauch durch sexuelle Gewalt kann nur durch eine großherzige Geste eines lebensverändernden Zeichens von der Institution Kirche in ihrer Gesamtheit annähernd wieder ins Lot gebracht werden.
Denn auch wenn der Missbrauch durch einzelne ihrer Vertreter geschehen war, so hat die Institution und die sie tragende Hierarchie in vielen Fällen diese Beschuldigten gedeckt, die Taten vertuscht und damit oft sogar vervielfältigt. Damit wurde der Glaube verdunkelt, die Plausibilität des Glaubens erlitt Schaden, und eine Wiedergutmachung zielt gerade darauf ab, diesen Glauben an die Heiligkeit der Kirche wieder zu ermöglichen. Das bedeutet der hier verwandte Begriff der „Lebensveränderung“. Die Wiedergutmachungsleistung der Institution Kirche soll „lebensverändernd“ wirken, um eine wirkliche Befriedung zu ermöglichen. Ob sie gelingt, kann allein der Betroffene entscheiden. Daher sollte die Kirche alles tun, um eine solche lebensverändernde Perspektive einzuleiten. Durch eine großherzige Geste, die genau das zu erkennen gibt.
Großherzigkeit beginnt aber nicht da, wo diese Anerkennungszahlungen enden. Damit wird auch nicht der Ansatz einer lebensverändernden Perspektive eröffnet.
Daher fordern viele Betroffene eine radikale Abkehr von solchen „im staatlichen oder juristischen Vergleich“ herangezogenen Entschädigungszahlungen  hin zu einer Geste des von Reue gekennzeichneten Aktes, einer wirklich auf Befriedung angelegten kirchlichen Tat.
Aus vielen Beispielen wissen wir, wie hoch die katholische Kirche menschliches Leben achtet. Sei es in Fragen des werdenden menschlichen Lebens vor der Geburt und des Lebensschutzes für Ungeborene, sei es in Fragen des Lebensschutzes am Ende eines Menschenlebens im Alter oder in schwerer Krankheit – immer sehen wir die Kirche als entschiedene Verfechterin des unbedingten Schutzes menschlichen Lebens.
Diese strikte Haltung wünschen sich Betroffenenvertreter auch im Umgang mit schwer getroffenen Missbrauchsopfern und ihrem Versuch, die ihnen noch verbleibende Lebenszeit bestmöglich zu gestalten. Nicht als gebrochene und alleingelassene Menschen, sondern in bestmöglicher seelischer und körperlicher Verfassung. Finanzielle Almosen, wie sie zur Zeit in Anerkennung der fürchterlichen Taten gezahlt werden, sind unangemessen und beschämend. Sie lindern die Schmerzen nicht und lassen die Narben nicht heilen, sondern sie vertiefen den Bruch zwischen der Kirche und den Betroffenen. Es bleibt bei ihnen das Gefühl der Minderwertigkeit („mehr sind wir der Kirche nicht wert“) zurück. Eine Befriedung wird damit nahezu unmöglich. Damit sollte endlich Schluss sein.

Die Heilige Schrift kennt lebensverändernde Wandlungen
Betroffene fordern die Kirche daher auf, endlich zu einem wirklich großzügigen Ausgleich bereit zu ein. Einem Ausgleich, der auf der einen Seite weh tut und schweres kirchliches Versagen zugibt – und der auf der anderen Seite die Möglichkeit einer wirklich lebensverändernden Perspektive eröffnet, an die die allermeisten Betroffenen nicht mehr geglaubt haben.
Die Heilige Schrift kennt solche lebensverändernden Wandlungen und gibt uns genügend Vorbilder: Denken wir nur an die wunderbare Wandlung von Wasser zu Wein bei der Hochzeit zu Kanaan, an das Gleichnis von der Teilung der Brote und Fische am See Genezaret oder an ähnliche Narrative, in denen Jesus von Nazaret Akteur und Ursache neuen wundersamen Verhaltens gewesen ist. Eine Kirche, die sich in dieser Tradition stehend verpflichtet sieht, sollte selbst erkennen, wie jetzt zu handeln ist.
Die Kirche sieht sich sodann in vielen Fragen auch als universelle weltweite Gemeinschaft. Wie oft wird etwa vor einem „rein deutschen Weg“ gewarnt, wenn es um Reformen geht, wenn es um ökumenisches Miteinander etwa in der Abendmahlsfrage geht. Kirche verweist dann gern auf ihren weltweiten Anspruch und die globale Verantwortung. Sie will keine Insellösung in pastoralen Angelegenheiten. Was für Deutschland und Europa gilt, soll auch in Afrika und Übersee gelten. Ob in der Zölibatsfrage, der Frauenfrage oder der Gemeindeführung. Immer wieder verweisen Bischöfe auf den globalen Konsens.
Die Kirche denkt global – so sollte es auch bei der Entschädigung sein
Warum nicht auch in der Frage der Entschädigung für Missbrauchsopfer? Weiß die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) nicht, was die nordamerikanischen Diözesen den Opfern sexueller Gewalt als Wiedergutmachung leisten? Die dort angestrebten Wiedergutmachungs-Leistungen sind große Opfer auch für die Kirche bis hin zur Insolvenz einzelner Bistümer. Dies liegt auch in einem anderen Schadensersatzrecht der USA begründet. Dennoch erkennen wir darin wirkliche Reue und den starken Willen zur Umkehr – anders als in Deutschland. Hier geht es doch nicht um Unvergleichbarkeit vor einem weltlichen Gerichtsverfahren. Hier geht es allein um kirchliches globales Handeln.
Und es geht um Reue. Wir kennen diesen Begriff vor allem aus dem sakramentalen Gebrauch in der Beichte: Der Pönitent zeigt ehrliche Reue, der Pries-ter erlegt ihm eine Buße auf und kann ihn dann nach hinreichender Prüfung in seinem priesterlichen Stellvertreter-Auftrag von den Sünden lossprechen. So geschieht Wiedergutmachung – so kennen wir kirchliches Handeln im Geist Christi.
Betroffene fordern die DBK daher auf, sich ein Beispiel zu nehmen, wie sie selbst in moralischen Angelegenheiten handelt, sowie daran, wie jetzt schon andernorts versucht wird, unter großen
Schmerzen und mit spürbarer finanzieller Großzügigkeit den Opfern eine späte lebensverändernde Perspektive zu eröffnen. Gegenwärtig ist die katholische Kirche in Deutschland davon noch meilenweit entfernt. Sie sollte ihren Horizont in dieser Angelegenheit endlich erweitern und sich auf ihre moralische Verantwortung besinnen.
Wenn es in dieser Frage keine weitergehende Einigung im Gesamt der Bistümer auf Bundesebene gibt, weil immer irgendwelche Blockierer eine Einigung verhindern, dann ist jeder einzelne Ortsbischof gefragt, eine eigene Regelung zu finden. Er ist – so schreibt es das kirchliche Gesetzbuch vor – für das Gesamt der Seelsorge in seiner Diözese verantwortlich. Denn die Glaubensgemeinschaft für jeden Einzelnen findet dort statt, wo Kirche lebt: Vor Ort, in der Gemeinde und in der Diözese.

Von Michael Belzer

 

Zur Person
Dr. Michael Belzer gehörte bis zu seinem Ruhestand zum Team der Katholischen Glaubensinformation kgi. Er ist Mitglied des gemeinsamen Betroffenenbeirats der Bistümer Fulda, Limburg und Mainz und Mitglied der Aufarbeitungskommission Mainz. Er betrachtet seinen Beitrag als „Einzelstimme“ aus dem Kreis der Betroffenen.

https://bistummainz.de/organisation/sexualisierte-gewalt/betroffenenbeirat/

 

Zur Sache
Situation in Mainz, Limburg und Fulda
Die drei diözesanen Aufarbeitungskommissionen in Mainz, Limburg und Fulda haben vor kurzem ihre Arbeit aufgenommen. Zuvor war der gemeinsame Betroffenenbeirat der drei Bistümer zusammengetreten, hatte seinen Vorstand gebildet und Vertreter/innen in die jeweiligen Kommissionen entsandt. Unterdessen hat die Unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leids (UKA) einen Tätigkeitsbericht für 2021 vorgelegt. Wie berichtet, wurden 38 Anträge aus dem Raum des Bistums Mainz gestellt, aus dem Raum des Bistums Limburg 27 Anträge, aus dem Raum des Bistums Fulda
18 Anträge. (nen)

https://www.anerkennung-kirche.de/