„Was ich bin, wirst du werden“

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In der St.-Marien-Kirche in Loxstedt schwingt der Tod die Sense. Als im Norden Deutschlands die Pest wütete, machten sich die Menschen Sorgen um ihr Seelenheil. Einmalige Fresken schildern, wie sie glaubten, lebten und dachten.


Der Totentanz von Loxstedt. Als vor 650 Jahrn die Pest wütete, wurde die St.-Marien-Kirche gebaut, ihre Gewölbe mit Fresken ausgemalt. Sie erzählen, wie sich die Menscen das Jenseit vorstellten.

Was wäre der richtige Ausdruck? Ein Schatz der Kunstgeschichte sowieso. Aber auch ein Sittengemälde, eine illustrierte Geschichtsstunde, vielleicht ein psychoanalytischer Blick tief in die Seele und Gedankenwelt der Menschen des Mittelalters. Und wohl auch ein Gruselkabinett für Kinder. So jedenfalls hat es Ulrich Euent in Erinnerung: „Wenn ich mit der Oma in den Gottesdienst ging, nahmen wir immer den Seiteneingang, damit ich nicht den Sensenmann sehen musste“, erinnert sich Euent.

Der Sensenmann von Loxstedt – seit 650 Jahren lehrt er die Menschen das Fürchten. Nur Haut und Knochen, die Bauchhöhle ausgeweidet, Schlangen winden sich um Arme und Beine, eine kriecht aus den leeren Augen. Links eine junge Frau, rechts ihr Mann, offensichtlich wohlhabend die beiden. Sie kokettiert, schaut eitel in den Spiegel, lupft das Kleid und zeigt den Unterrock, er mit tänzelnden Schritten im modischen Wams. Das Paar genießt das pralle Leben und hat keinen Blick für das drohende Ende und für das Spruchband über Gevatter Tod: „Oh Mensch auf der Erde, was ich bin, wirst du werden.“
 


Ulrich Euent kennt die Kirche seit Kindheitstagen.

Wie kein zweiter hat sich Heimatforscher Ulrich Euent mit der Geschichte der Fresken in der St.-Marien-Kirche in Loxstedt bei Bremerhaven befasst. Gerade jetzt, in Zeiten von Corona, weist er auf verblüffende Parallelen hin; denn entstanden ist der Bilderzyklus, als die Pest über die Handelschiffe in der Mitte des 14. Jahrhunderts in den Norden Deutschlands kam: 1349 erreichte die erste Welle das Erzstift Bremen mit verheerenden Folgen. Ein paar Jahre später folgte eine zweite und raffte vor allem die Kinder hin. „Die Menschen fürchteten sich nicht vor dem Tod, der gehörte zum Alltag dazu. Aber sie hatten Angst vor dem, was sie erwarten könnte.“ In ihren Köpfen spukten Dämonen, Monster und Teufel, die Gedanken kreisten um Fegefeuer und Höllenqualen. Die Chance auf einen Platz im Himmel hätten sie nur durch geistlichen Beistand – und der war damals weit und breit nicht in Sicht. „Darum wurde 1371 die Kirche gebaut. Und noch während die Gerüste für die Gewölbe standen, malten unbekannte Künstler die Fresken“, erzählt Euent. Der Totentanz ist begleitet vom Martyrium der frühen Christen, die Steinigung des Stephanus, Sebastian am Pfahl, von Pfeilen durchbort, gegenüber Rochus, der klassische Pestheilige, der sich bei der Pflege der Kranken angesteckt hat.
 


Der heilige Sebastian wird von Pfeilen durchbohrt.  So wie er den Qualen ausgesetzt ist, fühlten sich die Menschen von der Pest bedroht.

Bevor der Besucher vom ständigen Blick an die Kirchendecke Genickstarre bekommt, erläutet Ulrich Euent in der grün gestrichenen Kirchenbank ein paar Hintergründe über die ungewöhnliche Kirche von Loxstedt, eine der ersten im Umkreis, die nicht aus Feld- sondern Backsteinen gebaut und später erweitert wurde. Bald nach der Reformation tünchte man die Fresken über, sie gerieten in Vergessenheit. Erst bei Renovierungsarbeiten im Jahr 1910 wurden sie unter der weißen Farbe wieder entdeckt und Stück für Stück freigelegt. Nach dem Krieg feierten übrigens auch die Loxstedter Katholiken – vor allem schlesische Vertriebene – ihren Gottesdienst in St. Marien, bis sie 1965 ihre eigene Kirche ein paar Meter weiter einweihen konnten.

Jetzt aber zurück zu den Fresken, eine faszinierende Bilderbibel, die soviel davon erzählt, was in den Menschen jener Zeit vorgegangen ist. Nach dem ers­ten Schock, ausgelöst durch die drastischen Totentanz-Darstellungen, dann das Jüngste Gericht im zweiten Gewölbe. Zunächst fällt eine große Lücke auf. Hier thronte ursprünglich Christus als Richter über die Menschen. Wenige Farb­spuren lassen darauf schließen. Das Motiv selbst ist regelrecht abgekratzt worden – weil die Menschen nach der Reformation überzeugt waren, sich kein Bild von Gott machen zu dürfen. Alles andere aber blieb in den Erdfarben Ocker, Umbra und Veroneser Grün erhalten: Der Himmel als kleine Kirche, gegenüber die Hölle in Gestalt eines Ungeheuers. Flammen züngeln aus Maul und grinsende Teufel schubsen die Sünder hinein …

Eher friedlich geht es unter einem dritten Gewölbe zu: Die Könige huldigen dem neu geborenen Kind in der Krippe, Gott schafft Eva aus einer Rippe Adams, ein kompletter Stammbaum der Heiligen Familie. Zuletzt fällt noch ein Bruch in der künstlerischen Darstellung auf: Die Malereien im späteren Erweiterungsbau der Kirche sind von einem zweiten – sagen wir mal: weniger talentierten – Künstler aufgebracht worden. Doch auch sie sind voller Symbolik und reich an Details. Ulrich Euent: „Natürlich ist uns heute vieles aus der damaligen Gedankenwelt völlig fremd. Aber anders als heute war die Kirche in Zeiten von größter Gefahr für alle geöffnet, die hier Trost gesucht haben.“

Stefan Branahl