Gebetsserie: Beten in der Poesie

Wenn Dichter beten

Image

Um „auszusprechen, was er selbst nicht auszudrücken vermag“, braucht der Mensch die Dichter. Sagte Johann Wolfgang von Goethe. Beim Beten haben viele Menschen Probleme, sich auszudrücken. Können die Schriftsteller helfen?

Ein Neumond leuchtet in der Nacht
"Der Mond ist aufgegangen" - eine berühmtes Gedicht, das sich auch an Gott richtet. 

Von Hubertus Büker 

Mitunter verliert man ein wenig die Hochachtung vorm Dichterfürsten Goethe. Im „Faust“ findet sich eines der berühmtesten Gebete der deutschen Literatur. Gretchen wendet sich in ihrer Verzweiflung über den Verlust ihrer Unschuld an die Gottesmutter und fleht sie an: „Ach neige,/Du Schmerzensreiche,/Dein Antlitz gnädig meiner Not!“

Ein ergreifender Text. Dazu tragen die ersten beiden kurzen Zeilen gerade dadurch bei, dass sie sich nicht reimen – im Unterschied zu den folgenden Versen. Aber, ach, dieser Goethe war gebürtiger Hesse; „neige“ und „-reiche“ klangen aus seinem Mund sehr ähnlich. Wenn man sich vorstellt, den Auftakt dieses Gebets in näselndem Hässisch vorgetragen zu bekommen – die ganze Erhabenheit wäre zum Teufel.

Aber im Dialekt liest ja, Gott sei Dank, praktisch niemand Gretchens Klage: „Ich bin, ach! kaum alleine,/Ich wein’, ich wein’, ich weine,/Das Herz zerbricht in mir.“ In ihrem Schmerz und ihrer Scham sucht sie Zuflucht bei der Mutter Jesu: „Hilf! rette mich von Schmach und Tod!“ Denn: „Das Schwert im Herzen,/Mit tausend Schmerzen“ – das kennt Maria schließlich nur zu gut.

Seit es Literatur in deutscher Sprache gibt, formulieren die Dichter Gebete. Das älteste erhaltene christliche Gedicht, um das Jahr 790 entstanden, ist das Wessobrunner Gebet. Man kann es, aus dem Althochdeutschen übertragen, auch heute ganz genauso beten wie vor 1200 Jahren. Es endet: „Allmächtiger Gott, du hast Himmel und Erde erschaffen und den Menschen so viele gute Gaben gegeben: Gib mir in deiner Gnade den rechten Glauben und guten Willen, Weisheit, Klugheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen und das Böse zu meiden und deinen Willen zu tun.“

Manche Gebete sind berühmt geworden 

Manche Gebete der Dichter sind derart berühmt geworden, dass sie bis heute gesprochen werden – oder gesungen. „Der Mond ist aufgegangen/Die goldnen Sternlein prangen/Am Himmel hell und klar;/Der Wald steht schwarz und schweiget,/Und aus den Wiesen steiget/Der weiße Nebel wunderbar.“ Wer diese Zeilen von Matthias Claudius liest, der summt oder singt die eingängige Melodie von Johann Abraham Peter Schulz sogleich mit. Und irgendwie verzeiht man einem 240 Jahre alten gesungenen Lied eher als einem gelesenen oder gesprochenen Text sogar das nicht mehr Zeitgemäße. Dass in der letzten Strophe nur die „Brüder“ angesprochen werden und die Vorstellung eines strafenden Gottes bedient wird, stört uns heute. Eigentlich. Aber bewegend klingt es doch: „So legt euch denn, ihr Brüder,/In Gottes Namen nieder; Kalt ist der Abendhauch./Verschon’ uns Gott mit Strafen,/Und lass uns ruhig schlafen,/Und unsern kranken Nachbar auch!“

Wie bei Matthias Claudius sprechen viele Gebete der Dichter Bitten aus, empfehlen dann aber vor allem Gottvertrauen. Johann Gottfried Seume (1763–1810) zum Beispiel: „Mein Vater, der mich nährt und schützt,/Ich weiß so wenig, was mir nützt,/Dass ich fast nichts zu bitten wage./Ich halte mich/Allein an dich,/Du Herr und Lenker meiner Tage.//Nur diese Wahrheit seh’ ich ein,/Gib mir die Kraft, stets gut zu sein,/So bin ich überall geborgen,/Das andre kommt,/So wie mir’s frommt,/Dafür wirst du, mein Vater, sorgen.“ 

Auch Eduard Mörike (1804–1875) überlässt alles dem Herrn, legt ihm indes nahe, es so oder so nicht zu übertreiben: „Herr! Schicke, was du willst,/Ein Liebes oder Leides;/Ich bin vergnügt, dass beides/Aus deinen Händen quillt.//Wollest mit Freuden/Und wollest mit Leiden/Mich nicht überschütten!/Doch in der Mitten/Liegt holdes Bescheiden.“

Aber nutzt das Gebet überhaupt? Was kann es Gott bedeuten, ob er bete oder nicht, fragt der Komponist, Maler und Dichter Arnold Schönberg (1874–1951): Vielleicht beachtet Gott sein Gebet ja gar nicht. „Und trotzdem bete ich“, beharrt Schönberg. Und schließt: „O du mein Gott,/Deine Gnade hat uns das Gebet gelassen,/Als eine Verbindung, eine beseligende Verbindung mit Dir./Als eine Seligkeit, die uns mehr gibt,/Als jede Erfüllung.“

Die Bitte, beten zu können, richtet die Lyrikerin Rose Ausländer (1901–1988) an Gott. Diesen schlichten und aufs Wesentliche verdichtete Text könnte man sogar stets beten, bevor man mit dem Beten beginnt:
Erbarm dich
Herr
Meiner Leere
Schenk mir
Das Wort
Das eine Welt
Erschafft