"Aus und davon" von Anna Katharina Hahn
Wenn die Bibel schwer auf der Brust hockt
ZDF/ Jana Kay
Erschöpfungszustände, Ernährungsprobleme, blinkende Handys – Phänomene von heute sind der Autorin Anna Katharina Hahn nicht fremd. Sie zeichnet in ihrem neuen Roman „Aus und davon“ das Porträt einer Familie. Religion und Bibel kommen auch vor – wie ein Echo aus vergangener Zeit. Von Ruth Lehnen
Dieses Buch ist heutig, ist witzig, und es ist bunt. Es lässt sich schlecht zusammenfassen, aber sehr gut lesen. Wichtig für uns: Endlich mal weibliche Hauptfiguren, die uns irgendwie bekannt vorkommen! Elisabeth, die früher begeistert im Reisebüro ihres Mannes tätig war, und die heute langsam machen muss, weil der Ischias sich wieder meldet. Deren Tochter Cornelia, die vor einem Haufen Problemen unbedingt mal davonlaufen muss und sich sagt, dass sie dazu das Recht hat. Deren Tochter Stella, deren Dessous so bunt sind wie der Regenbogen, und die sich in Hamid, den Flüchtling aus Syrien, verliebt hat.
Die Männer im Buch glänzen durch Abwesenheit, Elisabeths Mann, der Reisekaufmann, hat sich nach überstandenem Schlaganfall mit einer Annemarie absentiert, und Dimi, Cornelias Verflossener, möchte jetzt sein GriecheSein leben. So nacherzählt, könnte man sich fast in einer Boulevardkomödie befinden, die im Roman auch ausdrücklich erwähnt wird, als am Ende alles drunter und drüber geht.
Aber: Anna Katharina Hahn wäre nicht die Geschichtenerzählerin, die sie ist, hätte sie ihren Stoff nicht souverän am Wickel. Und uns Leser auch. Und so verstrickt uns die Stuttgarterin, die 2018 Stadtschreiberin in Mainz war, mitten hinein in dieses Familienleben. Elisabeths Nachkommen, vor allem ihr dicker Enkel Bruno, wachsen dem Leser rasch ans Herz.
Auch die Tiere spielen mit im Buch, die Tauben und die Katzen
Bruno wird in der Schule gemobbt, von den Lehrern will es keiner merken, und seine Mutter Cornelia kann einfach nicht mehr, weil sie wie ein Zirkusakrobat mit Frischobst, Ernährungstagebüchern und der Häme der Umgebung gleichzeitig jonglieren muss. Und als ihre Mutter Elisabeth übernimmt, macht sie gerade an dem Tag, als Bruno als „dicker fetter Pfannkuchen“ verspottet worden ist, was zum Mittagessen? Natürlich Pfannkuchen.
Elisabeth ist eine großartig erfundene Frauenfigur. Anna Katharina Hahn hat ihr einiges aufgeladen. Besonders unter dem Schlaganfall ihres Mannes Hinz hat Elisabeth zu leiden. Hahn schafft es, die Gefühle einer Pflegenden zu schildern, die ihren Mann so verändert findet, dass sie verzweifeln möchte. Sie hat Worte für das Drama, das sich in dieser alten Ehe abspielt, als der Mann Hilfe braucht, und deshalb fast vor Wut vergeht. Sie zeigt, wie die Liebe unter diesem Schlag fast zerbricht, und wie sie das zeigt, das ist meisterhaft.
Wer Anna Katharina Hahns Aktivitäten als Mainzer Stadtschreiberin verfolgt hat, weiß, dass sie sich für Tauben interessiert. Für Tiere überhaupt, und besonders für die Verachteten unter ihnen, die „Ratten der Lüfte“ genannt werden. Interessant ist es zu sehen, wie die Recherchen zu „Tauben in den Städten“, ihrem Stadtschreiberfilm beim ZDF, ins Buch eingeflossen sind. Die Schriftstellerin lässt Elisabeth und Bruno sehr liebevoll mit Tieren umgehen, und die beiden versehrten Tauben, die im Stuttgarter Taubenschlag Zuflucht gefunden haben, Röschen und Beinchen, wird kein Leser so schnell vergessen. Tauben sind es deshalb auch, die den Buchumschlag schmücken.
Wenn die Bibel auf der Zunge liegt und zu den Ohren herauskommt
Ein warmes, mitfühlendes Herz ist im ganzen Buch zu spüren, aber auch ein Gespür fürs Groteske und Komische. Vorsicht, bei diesem Buch kann es zu spontanem Lachen kommen!
Das gilt vor allem für eine Ebene, auf der die katholische Autorin mit den pietistischen Einflüssen in ihrer Stuttgarter Heimat spielt, und auf der sie, die lange als Bibelforscherin gearbeitet hat, ihrer Lust an Bibelzitaten und Bibelweisheit nachgibt und so dem Buch eine ungewöhnliche Färbung gibt.
Da sind zum Beispiel die Fellbacherinnen, pietistische Missionarinnen, die Elisabeth als Kind gekannt hat und die nun nur noch in Elisabeths Kopf leben und von dort ihre frommen Weisungen in ihren Gedankenstrom einspeisen. Auch die Bibel ist Elisabeth in Fleisch und Blut übergegangen, aber längst nicht immer zu deren Freude: „Die Bibel liegt auf Elisabeths Zunge, sie kommt ihr zu den Ohren raus und hockt ihr schwer auf der Brust“. Aber: „Nicht immer findet sie diese Gefangenschaft in der Schrift schlecht. Sie kann auch trösten.“ Denn Elisabeth kennt „Worte wie diese: Ich bin das Licht der Welt. Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“.
Die Fellbacherinnen und die Bibel, die gehören zu Elisabeths Grundausstattung. Mit denen lebt sie, und wie sie das tut, ist für Leser und Leserinnen sehr amüsant, die ihre Bibel ebenfalls kennen, und die Zweifel, ob sie zum Alltagsleben immer so viel Gutes beizutragen weiß. An einer Stelle wird Elisabeths Frust über ihre religiöse und lyrische Lebensausstattung offen verhandelt. Sie erinnert sich, wie sie mit Griechen im Konzertsaal war, die alle Gedichte auswendig kannten; und was kennt sie? „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn! Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen; führ uns an der Hand bis ins Vaterland“. Diese Zeilen von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, dem Gründer Herrnhuter Brüdergemeine, finden keinerlei Gnade mehr vor Elisabeths Augen: ,„Was für ein Unsinn‘, murmelt sie.“
Ihr gespeichertes Bibel- und religiöses Wissen hat etwas von geerbten Sammeltassen, die von einer anderen Zeit erzählen, nostalgisch schön und weitgehend nutzlos sind. Nur einmal, im Zusammenhang mit der Frage „Warum sind sie gestorben?“ erweisen sich „die alten Sprüche“ noch einmal als hilfreich.
Anna Katharina Hahn ist ein humorvolles, vielschichtiges und wunderbar lesbares Buch gelungen. Heiße Empfehlung.
Zur Sache: Der Linsenmaier
Anna Katharina Hahns Buch „Aus und davon“ enthält eine Art Geschichte in der Geschichte, eine in eigenen Kapiteln ausgestaltete Erzählung aus der Sicht einer Puppe. Der Linsenmaier, so heißt die Puppe, hat schon die (Ur)Großmutter bei ihrer Amerikafahrt begleitet, wird dann wichtig für die Hauptfigur Elisabeth und landet schließlich bei deren Enkel Bruno. Es ist ein romantisch verspieltes Einsprengsel, das sich Hahn hier erlaubt, indem sie die Puppe mit viel (Mit)gefühl ausstattet. Die Abenteuer des Linsenmaiers, der einmal sogar stirbt und wieder aufersteht, erhöhen noch den Reiz des Buchs.
Zu einem Porträt der Autorin Anna Katharina Hahn: https://www.aussicht.online/artikel/nicht-weglaufen