Das Selbstbild Jesu im Evangelium
Wer bin ich?
Im Evangelium klingt es, als sei Jesus ganz sicher gewesen, wer er ist: der Sohn Gottes. Und als wisse er genau, was jetzt passiert: „Ich komme zu dir!“ Aber war das so? Wie wuchs das Selbstbild Jesu? Ein Interview mit Thomas Söding.
Herr Professor Söding, im Sonntagsevangelium nennt Jesus sich selbst „Sohn“. Weiß man, ob er das selbst gesagt hat? Oder sagt Johannes das über ihn?
Johannes bringt den Geist Jesu zur Sprache. Er fertigt keine wörtlichen Mitschriften an. Er lässt Jesus so sprechen, dass die Wahrheit seiner Worte, das Geheimnis seiner Person, die Wirklichkeit seiner Botschaft zum Ausdruck kommen. Jesus hat tatsächlich viel gebetet. Er hat Gott seinen Vater genannt. Bei Markus wird im Gethsemane-Gebet sogar die aramäische Muttersprache Jesu hörbar: „Abba“ – lieber Vater. Wer so betet, sieht sich als Kind Gottes. Sein Beten verbindet Jesus mit den Juden und mit allen Menschen. Der Evangelist Johannes hat ausgelotet, was dieses Beten bedeutet: Es ist die Lebensader Jesu. Es ist Ausdruck seiner Liebe zum Vater. Hier liegt der Schlüssel, in Jesus den „Retter der Welt“ (Joh 4,42) zu sehen.
Wir nennen uns auch Söhne oder Töchter Gottes: Tat Jesus das in einem dogmatisch exklusiveren Sinn?
Es wäre grotesk, die späteren Formeln der Dogmatik irgendwo in den Gehirngängen Jesu nachweisen zu wollen. Das Dogma ist wichtig – aber nur eine Hilfskonstruktion, um in bestimmten Kontroversen zu sichern, was den Glauben an Jesus ausmacht.Im Neuen Testament gibt es den Hoheitstitel „Sohn Gottes“, vor allem bei Paulus. Er ist nicht exklusiv, sondern inklusiv gedacht. Jesus ist nicht der Sohn Gottes, weil er bestimmte Privilegien für sich behalten, sondern weil er alle Menschen in seine Liebe zu Gott einbeziehen will. Nach Johannes äußert sich Jesus ebenso selbstbewusst wie demütig als „Sohn“: weil er von seiner ureigenen Sendung überzeugt ist, eine Kunde von Gott zu geben, die glaubwürdig ist. Das ist seine Heilssendung, die im von Johannes gestalteten Gebet Jesu zur Sprache kommt.
„Alles, was mein ist, ist dein“ – das klingt nach Identität: Hat Jesus sich für göttlich gehalten?
Vielleicht klingt es eher nach Gemeinschaft als nach Identität. Der Sohn ist nicht der Vater, der Vater ist nicht der Sohn – das ist auch eine Einsicht der später entwickelten Trinitätstheologie. Entscheidend ist die Beziehung: zwischen dem Vater und dem Sohn – und den Gläubigen, vor denen, für die und mit denen Jesus betet. „Alles, was mein ist, ist dein“ und „Alles, was dein ist, ist mein“ – das sagen Liebende. Nur sie dürfen es sagen, ob es sich um Freundinnen und Freunde handelt, um Liebespaare oder Familienmitglieder. So auch hier. Jesus weiß sich von Gott, dem Vater, geliebt – und er liebt ihn aus vollem Herzen. Deshalb gibt es die Gemeinschaft, ja: die Einheit von Vater und Sohn, von der im Heiligen Geist alle Menschen und die ganze Welt etwas haben können. Was? Das ewige Leben, das schon hier und jetzt beginnt und den Tod in die Schranken weist.
Der Text stammt aus den Abschiedsreden und es klingt so, als wisse Jesus, was jetzt auf ihn zukommt. „Ich komme zu dir“, sagt er. Wusste Jesus, dass er leidet? Und dass er aufersteht?
Jesus wäre naiv gewesen, wenn er nicht mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Endes gerechnet hätte. Er brauchte nur an Johannes den Täufer zu denken, der frisch das Martyrium erlitten hatte. Und Jesus wäre nicht Jesus gewesen, wenn er Gott nicht zugetraut hätte, stärker zu sein als der Tod. Gegen die Sadduzäer, die Partei des Priesteradels, verteidigt er die Auferstehungshoffnung Israels; seinen eigenen Jüngern hat er beim Letzten Abendmahl versichert, erst wieder im Reich Gott „vom Gewächs des Weinstocks“ trinken zu werden (Mk 14,25). Johannes hat diese Ansätze aufgenommen und verdichtet. So lässt sich das Gebet deuten – und mitbeten.
Würde ein solches Vorabwissen das Leiden nicht entwerten?
Im Gegenteil. Gottes Heilswille ist kein Automatismus, bei dem Jesus ein kleines Rädchen im Getriebe des Weltgeistes gewesen wäre. Jesus hat sein Leben nicht weggeworfen, sondern hingegeben. Er wollte nicht sterben – aber er ist in der Hoffnung auf Gott gestorben, weil Menschen ihn umgebracht haben, ob aus Machtkalkül, ob im Namen Gottes. Weil er an die Auferstehung von den Toten geglaubt hat, ist ihm auch das irdische Leben ans Herz gewachsen. Zur Auferstehung gelangt ja kein anderer als der Mensch, der gelebt hat und gestorben ist. Jesus hat nicht für sich selbst gelebt, sondern für andere. Er ist auch nicht für sich selbst gestorben, sondern für andere. So ist er auch nicht für sich selbst auferstanden, sondern für alle, die Gott retten will. Das ist der Glaube der Kirche, den Johannes im Gebet Jesu verankert.
Einige apokryphe Schriften stellen Jesus als jemanden dar, der schon als Kind über seine Rolle Bescheid wusste. Die Evangelien sind da zurückhaltender. Gab es eine Entwicklung im Selbstbewusstsein Jesu?
Die apokryphen Evangelien sind zum großen Teil Unterhaltungsliteratur – für fromme Gemüter. Ihr historischer Quellenwert ist Null. In der Tat, die Evangelien sind nüchterner. Ein Psychogramm Jesu schreiben sie nicht. Einen Entwicklungsroman auch nicht. Aber dass Jesus gelernt hat – von Gott –, steht ausdrücklich im Johannesevangelium. Jesus hat auf Gott geschaut, auf ihn gehört, von ihm mit zu den Menschen genommen, was der Vater ihm, dem Sohn, anvertraut hat.
Welche Schritte könnte man da nennen?
Einen mindestens: den, dass er sich der Unausweichlichkeit des Todes aussetzt. Und nicht denkt, dass er das absolute Ende ist, sondern ein Durchgang, ein Neubeginn. Das ist unsere Hoffnung.
Und vorher?
Die Taufe im Jordan war wichtig. Gott hat ihn angeredet, lesen wir in den ersten drei Evangelien: „Du bist mein geliebter Sohn“. Nach der Taufe ging es für Jesus los: zuerst in die Wüste, dann dorthin, wo die Menschen leben. Er besteht die Versuchung – und er entdeckt die Verheißung. Die Evangelien bleiben diskret. Aber sie erzählen, dass Jesus sich mit seiner Gottesbotschaft ganz und gar identifiziert hat. Das Johannesevangelium geht am weitesten.
Interview: Susanne Haverkamp