Anfrage

Wer ist der Lieblingsjünger?

Welche Person ist im Johannesevangelium „der Jünger, den Jesus liebt“? Wenn der Lieblingsjünger nicht selbst der Verfasser ist, was könnte den Verfasser dazu veranlasst haben, aus der Person ein Geheimnis zu machen? Günter Beierle, Worms

Das Johannesevangelium spricht wiederholt von einem „Jünger, den Jesus liebte“, und das an ganz entscheidenden Punkten: während des Abschiedsmahles, bei der Kreuzigung, bei der Entdeckung des leeren Grabes, bei der Erscheinung des Auferstandenen und schließlich bei der Frage der Nachfolge Jesu.

Dabei steht der Lieblingsjünger immer in auffallendem Kontrast zu Petrus. Er stellt Jesu Lehren nicht infrage, sucht seine Nähe beim Abendmahl, bleibt unter dem Kreuz stehen und erkennt ihn nach der Auferstehung sofort wieder. Doch wer war dieser Lieblingsjünger? In der christlichen Tradition ist er früh mit dem Apostel Johannes identifiziert worden. Wenn man den Worten des Evangeliums vertraut, wäre er gleichzeitig der Evangelist Johannes, denn der Lieblingsjünger ist nach Johannes 21,24 auch der Verfasser dieses Evangeliums.

Auch wenn manches dafür spricht: Andere Bibelauslegungen sahen im Lieblingsjünder den Apostel Andreas oder den Evangelisten Markus. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, glaubte sogar, dass es der auferweckte Lazarus sei. Sicher entscheiden lässt sich diese Frage also nicht. Der Jünger, den Jesus liebte, wurde eben nie eindeutig mit Namen genannt. Warum nicht?

Der Grund könnte darin liegen, dass das Johannesevangelium auch ein poetischer Text ist, wie schon der Hymnus „Im Anfang war das Wort“ zeigt. Daher ist es auch möglich, dass der Lieblingsjünger keine historische, sondern eine symbolische Figur ist. Sie hat keinen Namen, weil sie das Idealbild eines Jüngers Jesu ist: Dieser geht ganz selbstverständlich in der Nachfolge Jesu auf, weil er sich bedingungslos von Jesus geliebt weiß.

So konnte jede Leserin und jeder Leser des Evangeliums neben Petrus eine Figur finden, um sich mit ihr zu identifizieren. Vielleicht hat der Verfasser des Johannesevangeliums sich gar beides gedacht: dem Apostel Johannes ein Denkmal zu setzen und den Lesern das Idealbild eines Jüngers in der Liebe Jesu aufzuzeigen.

Christoph Buysch