Das Ethik-Eck

Wer ist der wichtigste Mensch in Deinem Leben?

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Die Frage lautet diesmal: „Wer ist der wichtigste Mensch in Deinem Leben? Ich“: Selbstfürsorge ist laut allen Ratgebern angesagt. In der Kirche heißt es immer, man dürfe nicht nur um sich selber kreisen, sondern müsse für den anderen leben. Ein Widerspruch?


Sorgend
Leben ist Beziehungsgeschehen. Wenn es heißt, „man dürfe nicht nur um sich selber kreisen“ liegt die Betonung auch auf dem kleinen Wörtchen „nur“. Somit eigentlich kein Widerspruch.
Denn um für andere leben zu können, ist wohl ein gewisses Maß an Selbstfürsorge von Nöten. Das fängt schon bei den Grundbedürfnissen an. Wenn die Luft zum Atmen fehlt – wie bei Druckabfall im Flugzeug – soll man zuerst selbst die Sauerstoffmaske aufziehen, bevor man anderen hilft. Für Ersthelfer muss Eigensicherung immer an erster Stelle stehen. Eine pflegende Person, die sich selbst überfordert, kann irgendwann nicht mehr für den pflegebedürftigen Menschen da sein. Also ein klares Ja zur Selbstfürsorge! Nur darf Selbstfürsorge eben nicht in Egoismus ausarten.


Dr. Beatrice van Saan-Klein
Biologin, Umweltbeauftragte
des Bistums Fulda

Die Redensart: „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht“, greift zu kurz. Wir sind Beziehungswesen und gerade in pandemischen Zeiten mit sehr eingeschränkten Beziehungsmöglichkeiten wird uns dies deutlich vor Augen geführt.
In der Bibel heißt diese Frage nicht einfach „Ich“ oder „die anderen“, sondern das Liebesgebot sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lukas 10, 27).
Wenn wir uns selbst nicht lieben, werden wir schwerlich Liebe geben können. Wissen wir uns aber von Gott geliebt, so können wir diese Liebe weiterschenken und auch uns selbst annehmen und lieben. Gott bietet uns seine unendliche Liebe an und sorgt für uns immer und überall.
Wenn wir bereit sind, diese Liebe anzunehmen und uns von ihm führen zu lassen, gibt uns das mehr, als wir mit jeder noch so intensiven Selbstfürsorge erreichen könnten. Nur Gott kann uns geben, was wir wirklich brauchen. Eine intakte Gottesbeziehung ist quasi die beste Selbstfürsorge und gleichzeitig das größte Reservoir, um für andere zu leben.
Deshalb haben mein Mann und ich als Trauspruch Matthäus 18,20 gewählt: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Unsere Partnerschaft ist in unserer Gottesbeziehung getragen. Die gemeinsame Zeit im Gebet ist uns so wichtig wie der gemeinsame Spaziergang oder die gemeinsame Mahlzeit.
Aus einer intakten Beziehung zu Gott und unseren Nächsten schöpfen wir Menschen Kraft zum sorgenden Umgang auch mit den Fernsten, den Mitgeschöpfen und unserer Erde.

 

Füreinander
Puh, das finde ich wirklich die bisher schwierigste Frage, die hier gestellt wurde. Sie springt mitten in einen heiklen und komplizierten Bereich: Wie das Ich und das Du miteinander verwoben sind und in Beziehungen ineinander greifen – und wie sie gut miteinander auskommen können.
Natürlich wird (fast) niemand einfach sagen: „Ich bin Egoist, das ist gut so!“ – aber Selbstfürsorge ist doch wichtig: dass ich mich um mich kümmere, meine Gefühle ernstnehme, meine Interessen kenne und auch mal durchsetze.
Und dann gibt es ja noch die Erfahrungen mit Menschen, die sich ganz unterordnen, für andere opfern und die dann auch nicht besonders sympathisch sind, weil zu spüren ist, dass sie sich selbst etwas antun und nicht gerade fröhlich wirken. So doch auch nicht!
Haben die Ratgeber da nicht recht? Ja und nein – es ist komplizierter.


Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und
Sexualberatung im Haus der
Volksarbeit in Frankfurt

Beziehungen sind komplexe Gebilde, ein ständiges Geben und Nehmen, Austausch und Resonanz, spüren und gespürt werden, anbieten und sich schenken lassen, Platz geben und nehmen, Rücksicht nehmen und brauchen, abhängig sein und eigenständig; vieles mehr und alles gleichzeitig.
Interessanterweise nährt sich die Psyche, das eigene Wohlbefinden und erst recht das Glücklich-Sein vom Gelingen von Beziehungen. Und die nähren sich wiederum vom aufmerksam sein, sich kümmern, sich sorgen …
Noch mehr in Freundschaft, Partnerschaft und im Zusammenleben mit Kindern braucht es dieses Plus: ein Plus an Geben, Großzügigkeit, Übersehen, Verzeihen, Verantwortung. Sonst funktioniert es nicht gut.
Abgesehen davon, dass ich auch selbst immer mal jemanden brauche, der mir einfach etwas schenkt, ein Plus an Geduld, Freundlichkeit, Zuhören, was auch immer.
Wenn Partner in unserer Beratungsstelle genau wiegen und rechnen, wer was gibt oder geben müsste, wird es schnell kalt im Raum. Auch gesellschaftlich: wenn nur geschaut wird, was steht mir zu, welchen Anspruch habe ich, jetzt bin ich dran, dann wird es frostig.
Also braucht es beides: Ich schaue nach mir und dem anderen, und wenn ich nach dem anderen schaue, tue ich auch mir was Gutes, weil ich spüre, dass ich etwas Wichtiges, Sinnvolles tun kann und weil ich eine Resonanz bekomme. Und wenn ich in Verbindung bin, kann ich leichter zu mir und den anderen freundlich sein, kann ich mich gut dem anderen zuwenden. Und das gegenseitig und sich verstärkend.
Vielleicht ist der wichtigste Mensch: wir zusammen und einer für den anderen.

 

Ich und Du
Die Frage reagiert im Grunde auf den Verdacht, dass sich hinter der Forderung nach bewusster Selbstfürsorge nichts anderes als die Verharmlosung und letztlich Verschleierung eines weitgehend rücksichtslosen Egoismus, ja eines
anhaltenden Um-Sich-Selbst-Kreisens verberge. Unser Gegenüber gerate dabei aus dem Blick. Aber ist dieses Misstrauen berechtigt? Ist mit der Gleichsetzung von Egoismus und Selbstfürsorge schon das letzte Wort gesprochen? Als Christen verstehen wir uns dem Gebot der Nächstenliebe verpflichtet. Maßstab der Zuwendung zur/zum Nächsten aber ist immer schon die Zuwendung zur eigenen Person. Biblisch heißt es insofern eindrücklich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Die Heilige Schrift verlangt also keinen radikalen und somit einseitig bleibenden Altruismus im Sinne einer umfassenden Selbstaufopferung oder gar dauerhaften Zurücksetzung des Ich. Vielmehr hat sich unsere Liebe für das Gegenüber an der Liebe für das Selbst zu orientieren, ja, mehr noch, setzt sie ganz zentral voraus. Wo hingegen eine solche Zusage zum Ich fehlt, fehlt auch das Fundament der Zusage zum Du.


Stephanie Höllinger
ist Assistentin am Lehrstuhl
für Moraltheologie an der
Universität Mainz.

Umgekehrt genügt sich die Selbstliebe nie selbst, sondern bleibt anders als etwa im Fall des Egoismus bewusst auf das Gegenüber ausgerichtet, lässt sich schlichtweg nicht ohne das Du denken. Deshalb ist Selbstliebe nur dort recht verstanden, wo die eigene Achtung für das Ich immer wieder in die Achtung der/des Nächs-ten übersetzt und dadurch gewissermaßen kontinuierlich vertieft wird.
Dem biblischen Gebot geht es also um die Balance beziehungsweise Verschränkung zweier Grundhaltungen, die sich gerade nicht einseitig zugunsten der je einen oder anderen Haltung auflösen lässt, sondern nach der Anerkennung und Beibehaltung ihrer wechselseitigen Bezogenheit verlangt. Kurz: Nächstenliebe kann es nicht ohne Selbstliebe, Selbstliebe nicht ohne Nächs-tenliebe geben.
Für unsere Frage ergibt sich daraus folgende Einsicht: So wie wir die Nächstenliebe nicht notwendig mit einem überzogenen Altruismus gleichsetzen, so ist Selbstliebe nicht zwangsläufig als einseitige Überhöhung der eigenen Person zu verstehen. Sie meint stattdessen ein realistisches Wahr- und Annehmen eigener Potentiale und Schwächen, welches zugleich über das Selbst hinausverweist, ja in diesem Sinne offen für Andere bleibt und sich dennoch vor möglicher Ausbeutung, Instrumentalisierung … gezielt zu schützen weiß.
Das Gebot der Selbstliebe und -fürsorge lautet also nicht „Kreise ausschließlich um dich selbst!“, sondern „Du sollst dich selbst lieben wie deinen Nächsten!“ – Nicht mehr und nicht weniger.