Philosoph spricht über die Sonntagslesung
Wer sucht heute noch nach Weisheit?
„Strahlend und unvergänglich ist die Weisheit“, jubelt die Lesung. „Wer ihretwegen wacht, wird schnell von Sorge frei.“ Ist das so? Und wer sucht heute noch nach Weisheit? Fragen an den Philosophen Albert Kitzler.
Herr Kitzler, Sie beschäftigen sich als „Philo-Soph“ ganz wörtlich aus dem Griechischen übersetzt mit der „Liebe zur Weisheit“: Sind Sie ein weiser Mann?
Wer behauptet, weise zu sein, ist es bestimmt nicht. Zur Weisheit gehört Bescheidenheit und Demut. Mit den überlieferten Weisheitslehren in Orient und Okzident beschäftige ich mich intensiv seit über zwei Jahrzehnten. Mich dennoch stets weise zu verhalten, gelingt auch mir nicht immer. Da bin ich Mensch wie jeder andere. Ich habe aber viel von der antiken Philosophie gelernt und verinnerlicht. Das hat mein Leben verändert und mich sehr bereichert, erfüllt und glücklich gemacht.
Was ist überhaupt Weisheit?
Darauf gibt es viele Antworten, etwa: die Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge; die Kunst, gut zu leben und zu sterben; die Fähigkeit, gut mit sich, den anderen und der Welt umzugehen; Unglück in Glück verwandeln zu können; ein erfülltes und glückliches Leben zu führen; mit sich ins Reine zu kommen und stimmig und authentisch zu leben; aus seiner Mitte, also aus innerer Geborgenheit und Ausgeglichenheit heraus zu leben; die Kunst, loslassen zu können und aus allem das Beste zu machen. Es gibt noch weitere Umschreibungen.
Die biblische Lesung spricht von der Weisheit, als wenn sie quasi vor der Haustür wartet. Ist die Erfahrung nicht eher, dass es immer schwerer wird, wirklich weise Menschen zu finden?
Es hat zu jeder Zeit weise Menschen gegeben, und das wird sich auch in Zukunft nicht ändern, aber es waren leider nie viele. Es ist nicht leicht, zur Weisheit zu gelangen und sie in seinem Denken, Wollen, Fühlen und Handeln täglich zu leben.
Wie geht das?
Man muss vieles in sich überwinden und beherrschen und das gelingt nur wenigen wirklich gut. Aber wir alle besitzen Lebensweisheit, die einen mehr, die anderen weniger. Wem sein Leben gelingen soll, der sollte sich täglich bemühen, ein bisschen weiser zu werden. Dann werden wir uns in jeder Alltagssituation zurechtfinden und selbst schwere Schicksalsschläge überwinden können. Wir werden fähig sein, aus allem das Beste zu machen, unvermeidbares Leid zu tragen, unser Leben und unsere Mitmenschen zu lieben und uns wohlzu- fühlen in unserer Haut.
Wer sucht denn heute noch nach Weisheit? Ist das eine Sache für den Elfenbeinturm der Wissenschaft?
Wir alle suchen sie, bewusst oder unbewusst, denn wir alle wollen gut leben. Viele Menschen kommen jedoch über ein intuitives Suchen nicht hinaus, weil sie nicht wissen, dass dazu schon alles gesagt worden ist, vor allem in der Antike in Ost und West. Damals standen diese Fragen noch im Zentrum des philosophischen Denkens. Man kann den Menschen, die diese Überlieferung nicht kennen und nutzen, keinen Vorwurf machen, denn die Kunst des guten Lebens wird in unserem Bildungssystem nicht gelehrt. Das ist außerordentlich schade, denn es gibt kein Wissen, das nützlicher wäre als Weisheitswissen. Wozu dient all unser Wissen, wenn nicht dazu, uns zu helfen, als Einzelne und in der Gemeinschaft gut zu leben?
Sind da nicht pragmatische Lebenshilfen gefragt? Ratgeber vom Buchmarkt?
Einfache Lebensratgeber sind beliebt, denn was kompakt und verständlich geschrieben ist und eingängige Rezepte zum glücklichen Leben verspricht, verkauft sich gut. In diesen Büchern steht auch viel Richtiges. Was solchen Büchern aber fehlt, ist Tiefe, eine philosophische Durchdringung, die in einem Gesamtverständnis von Welt, Leben, Natur und Menschsein wurzelt, die sich auf Autoritäten stützen kann, die seit Jahrhunderten immer wieder geprüft und als herausragend anerkannt wurden. Das muss keineswegs schwer verständlich sein. Wo diese Tiefe aber fehlt, da fehlt es an Überzeugungskraft, die unserer Seele den notwendigen Schwung, unseren Selbststeuerungskräften die notwendige Entschlossenheit und Beharrlichkeit gibt, unsere Lebenspraxis zu verändern und unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln.
Wächst Weisheit im Laufe der Menschheitsgeschichte?
Nein, die Natur des Menschen hat sich in Jahrtausenden nicht verändert. Wir machen immer wieder die gleichen Fehler. Den Menschen fällt es schwer, selbstschädigende Begierden zu überwinden und mit sich selbst ins Reine zu kommen. Sie leiden unter negativen Emotionen wie Ärger, Zorn, Ängsten, Sorgen, Habgier, Neid, Eifersucht, Überforderung, Unausgeglichenheit. Solche Emotionen machen auf Dauer krank, wie die moderne Biomedizin nachgewiesen hat. Für die Weisen des Altertums waren diese Emotionen „Seelenkrankheiten“, die praktische Philosophie war „Seelenheilkunde“. Von all diesen Emotionen kann man sich durch philosophische Reflexion, entsprechende geistig-mentale Übungen und eine geänderte Lebenspraxis weitgehend befreien. Die höchste Tugend der Griechen war die sogenannte Sophrosyne, wörtlich übersetzt: das Sich-gesund-Denken.
Kann man sich auch gesund glauben? Ist es also weise zu glauben?
Ich denke, dass Spiritualität ein Teil der Weisheit ist. Die Vernunft ist begrenzt und erfasst nicht alles. Jenseits von ihr gibt es noch etwas. Es ist kein Zufall, dass im Alten Testament von der Weisheit ebenso oft und mit der gleichen Ehrfurcht die Rede ist wie von Gott.
Braucht unsere Welt überhaupt noch – oder gar mehr – Weisheit? Mehr Weise?
Davon kann man gar nicht genug haben, denn alles Leid, all die Kriege, die Zerstörung der Natur, jeder Streit im Privaten wie im Öffentlichen können darauf zurückgeführt werden, dass weder das Leben der Gemeinschaft noch des Einzelnen von Weisheit geleitet wird.
Interview: Michael Kinnen