Gespräch mit Dr. Christoph Rüdesheim (tpi) über die Zukunft der Kirche
„Wir denken Pastoral noch viel zu linear“
Wie sieht sie aus, die Kirche der Zukunft? Und welche Seelsorge wird dafür gebraucht? Wie lassen sich die Übergänge gestalten – in den Köpfen und den Herzen der Getauften? Darüber hat Johannes Becher mit Dr. Christoph Rüdesheim gesprochen. Er ist Leiter des Theologisch-Pastoralen Instituts (TPI) in Mainz.
„Zwischen Planung und Unverfügbarkeit. Lernen für eine Kirche auf dem Weg.“ So war der Festvortrag beim TPI-Jubiläum überschrieben. Wissen wir noch, woher wir kommen? Wissen wir, wohin es geht? Wie ist die Lage der Kirche aus der Sicht eines theologischen Beobachters?
Christoph Rüdesheim: Wir kommen aus einer Phase, in der wir uns Kirche, Gemeinde, Pastoral relativ linear als fortlaufendes Modell vorgestellt haben. Aber es hat sich schon lange angedeutet, dass wir eine disruptive Situation haben. Das heißt: Was wir als gegeben angenommen haben, ist nicht mehr da. Vielfältig. Das ist sowohl in den Gemeinden so. Dort haben viele, für die es zur sonntäglichen Übung gehört hat, zum Gottesdienst zu gehen, damit aufgehört. Das Gemeindeleben ist in Coronazeiten zusammengeschmolzen. Dazu kommen die Missbrauchsgeschehen, die tiefste Verunsicherungen ausgelöst haben. Auch unter Hauptamtlichen. Das ist schwer, sich einzugestehen, dass man zu einer Täter-Organisation gehört.
Zur Disruption gehört es auch, dass bestimmte Plausibilitäten, die eh schon im Wanken waren, jetzt nicht mehr auszuhalten sind: eine männerdominierte Kirche, Ämter, die nur Männern vorbehalten sind. Viele Bischöfe haben eingesehen, dass Argumente, die man lange in die Diskussion gebracht hat, jetzt nicht mehr verfangen.
Solche Prozesse wie der Synodale Weg zeigen ja, dass jetzt ein Punkt kommt, an dem Entscheidungen notwendig werden. Um letztlich auch in Fragen von Relevanz und Glaubwürdigkeit und auf dem Boden des Grundgesetzes stehend – das ja Männern und Frauen gleiche Rechte und gleiche Würde zuspricht – zu Entscheidungen zu kommen.
Welche Veränderungen nötig sind, das könnte man bei einer weiteren Veranstaltung des TPI erfahren. Titel: „Wer Kirche verändern will, der muss Kirche verstehen?“ – Wie ist Kirche?
Kirche ist ein komplexes Gebilde aus Göttlichem und Menschlichem. Einerseits ist sie gegossen in eine Organisationsform, andererseits ist sie immer auch Bewegung – nicht einzudämmen. Das Evangelium und der Heilige Geist lassen sich nicht einsperren. Aber unter den Bedingungen dieser Welt muss Kirche irgendwie auch Organisation sein. Innerhalb dessen haben auch Hierarchien ihren Platz. Und zwar dann, wenn es darum geht, dass eine Ebene nicht entscheiden kann, was zum Entscheiden ansteht. Und sie die nächst höhere Ebene anfragt, zu unterstützen und zu helfen. Dann sind Hierarchien sehr plausibel. Als Rückfalloption.
Wir wissen heute aus der Forschung, dass Organisationen soziale Systeme sind, die nicht linear steuerbar sind, sondern sehr eigensinnig funktionieren. Das wäre ein Punkt, wenn man Kirche verstehen will, einmal zu schauen, wie diese Eigensinnigkeit auf den verschiedenen Ebenen, die Kirche ausmacht, aussieht.
Das heißt zum Beispiel für eine diözesane Entscheidungsebene, dass sie sich im „Steuern“ fragen muss, ob es überall die gleichen Regeln braucht in pastoralen Veränderungsprozessen. Und ob die einheitlich von oben festgelegt werden müssen. Oder braucht es ein neues Freigeben von Ermöglichungs- und Erprobungsräumen? Dass auch einmal ehrlich gesagt wird: Wir wissen nicht mehr, wie es weitergeht.
Ist es aber nicht so, dass es in allen Reformprozessen eine doppelte Ungleichzeitigkeit gibt? Das Eine: Die in Worten geäußerte Absicht, einen ergebnisoffenen Prozess anzustoßen, beißt sich mit den – wegen der fehlenden Ressourcen (finanziell und personell) – bereits getroffenen strukturellen Entscheidungen. Das Andere: Aufgrund der katholischen Sozialisation tut sich mancher schwer damit, notwendige Entscheidungen zum Loslassen zu treffen ... Eine doppelte Ungleichzeitigkeit also …
Das ist genau das Faktum, dass Organisationen nicht linear steuerbar sind. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Es ist nicht mehr von einer zentralen Stelle aus steuerbar, die weiß, wie es geht, und die dann den Schalter umlegt. Wir sind keine Maschinen, in die man oben etwas einwirft und unten kommt das gewünschte Ergebnis raus. Diese lineare Berechenbarkeit ist eine Fiktion, die nicht funktioniert. Wenn man das positiv wendet, kann man über Meta-Kommunikation versuchen, miteinander Richtungen auszuloten, Erfahrungen auszutauschen, Feedback-Schleifen einführen ... Im Grunde sind Gemeinden eine Art „Black Box“, bei der man nicht weiß, was am Ende sein wird.
Die Einsicht ist bei vielen Entscheidern angekommen. Es ist die Rede davon, man brauche eine andere Haltung und man wolle die Kommunikation „umkehren“. Aber das Handeln ist ja noch längst nicht so. Kann man sagen: Problem erkannt, aber noch Schwierigkeiten, ins Tun zu kommen?
Ich glaube, dass vieles davon abhängt, dass alle, die verstanden haben – auch auf der obersten Ebene – das auch selbst tun. Das maßgebende Stichwort dabei ist „Frei-geben“ (wie es im Titel eines Buchs von Reinhard Feiter und Hadwig Müller über pastorale Erfahrungen in der Kirche Frankreichs heißt).
Ja, aber dieses „Frei-geben“ ist eine Generationenaufgabe. Beispiel deutsche Einheit – man redet immer noch von Ost und West. Die Frage ist auch, wie man sozialisiert ist. Was erwartet denn die Traditionsgemeinde an linearer Weiterversorgung?
Es geht um Kulturveränderungen. Und die laufen tatsächlich über Generationen. Die Erfahrung zeigt: Es gibt Gegenabhängigkeiten. Das heißt: Manchmal sind die Gemeinden konservativer als die Pfarrer. Das gegenseitige Jammern gehört dazu. Am Ende ist zu entscheiden, ob man mit Dissens umgehen kann. Dass alle das Gleiche denken und wollen – das gibt es nicht.
Eine solche Uniformität ist auch eine Fiktion. Man kann als Bistum einen Prozess beginnen. Wie die Menschen diesen aber sehen und sich dazu verhalten, da gibt es eine ganz große Bandbreite. In einer Gesellschaft, die über sich gelernt hat, dass sie mit Unterschieden auskommen muss, tut es auch einer Kirche gut, sich zu fragen: Wie gehen wir denn mit dem Dissens um? Da nützt es nichts, zu verteufeln und den Schwarzen Peter immer jemandem zuzuschieben. Das ist ein dickes Thema: Management von Dissens.
Im systemischen Arbeiten ist es eine wichtige Erkenntnis: Das Auftauchen von Widerstand ist ein Anzeichen dafür, dass ein Prozess angekommen ist. Dass klar ist: Es geht jetzt ans Eingemachte. Da ist Widerstand nicht zu verteufeln, sondern Teil des Prozesses, den man auch von vornherein mit bedenken könnte. Nicht, um ihn weg zu haben, sondern um konstruktiv damit zu arbeiten.
Das Verlangen nach linearer Pastoral zeigt sich ja auch in Situationen, wo neu strukturierte Gebiete – Pfarreien oder Dekanate – entscheiden sollen, was ihnen wichtig ist. Wo möchtet ihr einen Schwerpunkt in der Seelsorge setzen? Ihr könnt künftig nicht mehr alle alles tun. – Und die Gefragten tun sich unglaublich schwer, etwas vom Vertrauten wegzulassen. Was macht eine klare Selbstbeschränkung so schwer?
Es sind zwei Dinge, die es einzusehen gilt. Erstens: Wir können nicht mehr alles. Zweitens: Wir brauchen auch nicht alles. Bisher denken wir uns Pfarreien – auch die allerkleinsten – als Vollversorger. Und dass man dort alles bekommt, was man zum christlichen Leben braucht. Da wären die geplanten beziehungsweise schon errichteten großen Pfarreien eine Entlastung, wenn es gelänge zu sagen: Im Gesamt dieses Netzwerks – das will ja eine neue Pfarrei sein, und keine Zentrale – wird man all das wiederfinden können. Also beides: Es braucht die Einsicht, dass es nicht mehr geht. Und: Es braucht die "Erlaubnis". Starke Impulse, die auch eine Leitungsebene und ein Bischof setzen kann: Leute, schaut doch, was aus der Fülle dessen, was Gemeinde heißen kann, für euch besonders bedeutsam ist. Was davon könnt ihr mit Herzblut füllen?!
Auch dabei kann das Programm des TPI ein Stichwort liefern. Ein Angebot ist überschrieben „Pastoral vernetzt. Perspektiven des Netzwerkansatzes in der Pfarrei“. Letztlich geht es um veränderte Rollenbilder. Wie sehen die aus?
Ich selbst und viele Pastoraltheologen und Pastoraltheologinnen sind relativ ernüchtert von den Aussichten, allein in der Sozialform Pfarrei oder Gemeinde noch die Zukunftsform zu sehen, wie sich lebendiges Christ-Sein zeigt. Wir brauchen eine Zweitstruktur. Einerseits bieten wir in der Fläche in aller Treue diese Ankerpunkte, dass Menschen Kirche verlässlich finden können, um Gottesdienst zu feiern, Kinder taufen zu lassen, sich zu verheiraten; man wird auch beerdigt. Und gleichzeitig braucht es eine freie Form, wie Menschen das, was sie vom Evangelium verstanden haben, gemeinsam in neuen Verbindlichkeiten und neuen Offenheiten leben. Eine Zweitstruktur!
Die anglikanische Kirche nennt das „mixed ecology“. Dort werden die Ressourcen geteilt. Man kann das Neue, das nötig ist, nicht in Formen zwängen, die emotional am Ausbluten sind.
Gedankenexperiment: Angenommen, wir hätten keine Struktur in einer Kirchenverwaltung – Ordinariat, Generalvikariat. Wie sähe Kirche bei uns aus?
Was ist denn die Botschaft des Evangeliums, die wir auszurichten haben? Und wozu ist Kirche da? Mit Johannes 10,10 gesagt: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben in Fülle haben.“ Es ist ja nicht das Erste, dass wir Strukturen haben und einer vorne steht und sagt, wo es langgeht. Sondern erfülltes Leben heißt ja, dass Leben in der Nachfolge Jesu noch mal besondere Gestalt gewinnen kann.
Spannend wird es dann, wenn es gelingt, aus den eigenen Kirchengrenzen auszusteigen. Und im Sinne einer Sozialraumanalyse zu fragen: Was treibt denn die Menschen um, mit denen wir hier zusammen leben. Egal ob sie zu uns gehören oder nicht. Die Menschen, die hier mit mir im Quartier wohnen. Was sind deren Fragen? Und was können wir aus diesen Fragen lernen? Sozialraumorientierung wäre dann eine Möglichkeit, aus dieser Selbstbespiegelung auszusteigen.
Müsste eine solche Sozialraumorientierung nicht eine Querschnittsaufgabe in allen Bereichen der Seelsorge sein?
Ja, es wäre eine neue Form von Pastoral. Wo nicht einige wenige sich kümmern, sondern man exemplarisch anfängt, sich an einigen Orten auf einen solchen Weg zu begeben. Und man würde merken: Mit den Fragen, die die Menschen umtreiben, sind auch andere bereits beschäftigt. Eine Diakonie, eine Wohnungsbaugenossenschaft, eine Kommune … Und dann würde man sich in einem anderen Netzwerk wiederfinden. Nämlich in dem, wo all diejenigen unterwegs sind, die für ein gutes Leben für Menschen in konkreten Lebenssituationen arbeiten. Das wäre nicht der schlechteste Schritt, den Kirche im Augenblick machen könnte. Aufzuhören, sich als Mitgliedsverein zu sehen für die, die noch kommen zu Gottesdiensten und Veranstaltungen. Sondern eine Kirche, die sich fragt: Wozu sind wir da? – Zeichen und Werkzeug für das Reich Gottes.
„Nix von der Stange“ heißt ein weiterer TPI-Kurs. Es geht darum, Pastoral „weit(er) zu denken“. Heißt das: Es muss Vertrauen geben in die Akteure? Ein „Frei-geben“?
Es braucht mehr „brauchbare Unordnung“ (ein Begriff von Maren Lehmann, Soziologin in Friedrichshafen). Insofern, dass sich die Organisation nicht wichtiger nimmt, als sie ist.
Diese Bezogenheit, eine hauptamtliche Kirche als Motor zu haben, die den Karren zieht, dieses Bild gilt es zu revidieren. Wir müssen sagen: Die können unterstützen, inspirieren, hier und da etwas helfen. Aber es kommt jetzt auf diejenigen an, die aus eigenem Antrieb, als freiwillig Engagierte etwas tun wollen. Ein neues Ehrenamt.
Was wäre, wenn eine Gemeinde bekannt ist als Gastgeberin für Leute, die mit ihren Ideen Ähnliches im Sinn haben? Die selbst etwas wollen und nicht nur ausführen, was wir uns als Kirche ausgedacht haben. Ein holländischer Theologe spricht da von der „Gemeinde als Herberge“. Es wird was bereitgestellt in kirchlichen Räumen und es kann sich etwas entwickeln, was nicht von oben herab domestiziert wird. Natürlich im Sinne des Evangeliums und nicht gegen Menschenrechte und gute Sitten. In den Evangelien finden wir viele einfache Bilder, die uns helfen könnten, Kirche auch wieder einfach zu leben. Mitten unter den Menschen – und für sie. Es sind Spuren, die nicht schon ein Endergebnis haben. Aber es wären Möglichkeiten.
Danke fürs Gespräch!