Stephan Koch ist Notfallseelsorger

"Wir kommen als kleines Zeichen der Hoffnung"

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otfallseelsorger kümmern sich um Menschen, denen ein Schicksalsschlag schwer zugesetzt hat. Sie nehmen sich Zeit für ein Gespräch.
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Foto: Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen

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Notfallseelsorger kümmern sich um Menschen, denen ein Schicksalsschlag schwer zugesetzt hat. Sie nehmen sich Zeit für ein Gespräch.

Stephan Koch steht Menschen nach Verkehrsunfällen oder dem Tod eines Angehörigen bei. Im Interview erzählt der Notfallseelsorger, wie er ihnen hilft, warum sein Glaube dabei wichtig ist – und welche Momente ihn besonders berühren.

Wann werden Sie als Notfallseelsorger gerufen?

Wir Notfallseelsorger arbeiten meistens da, wo wir nicht gesehen werden. 90 bis 95 Prozent unserer Einsätze sind nach häuslichen Todesfällen, Verkehrsunfällen oder zur Überbringung einer Todesnachricht – alles weit unterhalb des Radars der Medien. Die wenigen Einsätze, die man sieht, sind die bei größeren Schadenslagen, weil da die Kameras drauf gerichtet sind.

Wie geht’s den Menschen, wenn Sie kommen? 

Viele sind schockiert. Alle haben eine große Verlusterfahrung gemacht. Da merkt man schon, dass ihnen ein Stück weit der Boden unter den Füßen weggerissen ist. Aber in den allermeisten Fällen sagen die Leute auch: „Es muss weitergehen. Trotz des schweren Verlusts, der mich jetzt prägt.“ Das ist noch keine Hoffnung. Das ist eher Pragmatismus.

Wie helfen Sie den Menschen?

Normalerweise ruft uns die Feuerwehrleitstelle an – weil zum Beispiel Notfallsanitäter und Notärzte am Ende ihres Einsatzes feststellen: Hier ist jemand allein, dem geht es nicht gut, der kommt nicht zurecht. Sein Nachbar ist noch nicht aufgetaucht, seine Schwester wohnt in München. Und es sollte jemand bei der Person bleiben. 

Das sind dann Sie.

Genau. Und um Seelsorge geht es dann erst mal nicht. Wir lassen Rettungsdienst und Polizei ihre Arbeit zu Ende machen. Die sind ja oft auch gut ausgebildet und haben sich um die psychosoziale Erstversorgung schon gekümmert. Da kommen wir dann dazu. Die anderen stellen uns vor. Und oft merken wir schnell: Wir haben bei den Menschen einen Vertrauensvorschuss.

Woran merken Sie das?

Daran, dass oft Leute sagen: „Sie sind ein Seelsorger und Sie haben jetzt Zeit für mich. Das ist aber schön!“ 

Sagen das nur gläubige Menschen?

Nein, das hat damit nichts zu tun. Seelsorger, das ist für viele einfach ein schöner Begriff. Der klingt anders als Kirche. Die Leute freuen sich, dass wir da sind, und nutzen die Chance, mit uns zu sprechen, wenn Polizei und Sanitäter das Haus wieder verlassen. Die Hütte ist nach einem Sterbefall ja oft erst mal ziemlich voll. Wenn sie sich leert, haben wir Ruhe, mit den Leuten zu sprechen. Wir versuchen dann, zwei wesentliche Fragen zu klären. Erstens: Haben Sie wirklich realisiert, was los ist? Und zweitens: Können Sie mir erzählen, was Sie gesehen haben, als Sie hier reingekommen sind? 

Fangen wir mit der ersten Frage an. Die klingt simpel …

… ja, aber gerade in der Schockphase wollen manche die Fakten nicht wahrhaben. Oft kommt das nicht vor, aber manchmal eben doch.

Stephan Koch, Notfallseelsorger
Stephan Koch arbeitet seit 2010 als Notfallseelsorger und ist seit März 2023 Vorsitzender der Bundeskonferenz Katholische Notfallseelsorge. Foto: Bartosz Galus

Wie schaffen Sie dann Klarheit?

Zum einen, indem wir das, was ist, selbst aussprechen. Zum anderen, indem wir ermutigen: Fassen Sie den Leichnam doch noch mal an! Damit ein Abschied möglich ist. Und damit sie es wirklich begreifen: Ja, mein Mann ist tot. Psychologisch ist diese Klarheit wichtig. Und sie hat auch einen praktischen Nutzen.

Warum?

Es klingt vielleicht blöd, aber ich habe schon erlebt, was schiefgehen kann, wenn die Klarheit fehlt. Dann denkt jemand, dass der Partner nicht tot ist – und lässt ihn noch sieben Tage auf dem Sofa sitzen. Das ist je nach Jahreszeit wirklich nicht angenehm. 

Und warum lassen Sie sich erzählen, was der Hinterbliebene gesehen hat, als er ins Zimmer gekommen ist?

Zur Sicherheit. Manche kommen ja nichtsahnend zur Tür herein und plötzlich liegt ihr Partner da tot auf dem Boden. Vielleicht finden sie sogar jemanden, der sich suizidiert hat. Oder sie haben versucht, ihn zu reanimieren. Das sind alles Eindrücke, die nicht schön sind. Wir versuchen, behutsam, aber beständig dafür zu sorgen, dass die Menschen das in Worte fassen. Wenn man es schafft zu erzählen, wie es war, dann hilft man sich dabei, dass sich diese Bilder nicht zu sehr verfestigen und Schaden anrichten. 

Und wenn jemand spirituelle Bedürfnisse äußert?

Dann bieten wir eine Verabschiedung vom Leichnam an. Wir versuchen, dafür zu sorgen, dass noch mal die Beziehung zum Verstorbenen zur Sprache kommt – egal ob das gute oder schlechte Gefühle erzeugt. Natürlich sprechen wir sehr gerne auch ein Gebet mit den Hinterbliebenen.

Wollen viele Leute das heutzutage noch?

Dass die religiösen Bindungen nachlassen, das zeigt sich natürlich auch in solchen Situationen. Die Praxis des Betens ist ja nicht mehr so verbreitet, dass jeder von sich aus ein freies Gebet sprechen könnte. Deshalb fassen wir oft in einem kleinen Gebet die Gedanken in Worte, die Hinterbliebene uns gesagt haben. Mit kleinen Ritualen, etwa mit einem hergerichteten Nachttisch mit einer Kerze, mit einer Berührung des Toten, mit einem Segen. 

Kommt es noch vor, dass jemand einen Rosenkranz mit Ihnen beten will?

Ich hab es nur einmal erlebt – und ich bin seit 2010 Notfallseelsorger. Das Vaterunser ist da schon eher ein passendes Gebet. Das kennen die Leute, das gehen sie mit. 

Was bewirken Rituale und ein Gebet?

Sie helfen, diese Situation zu einem ersten kleinen Abschluss zu führen. Und sie zeigen manchmal auch Menschen, die sonst nicht religiös sind: Beten kann vielleicht auch mir helfen. Es tut mir gut – und vielleicht bete ich morgen auch noch mal, wenn ich mich schlecht fühle und allein bin und keinen Seelsorger mehr um mich herum habe.

Was bewirkt das Beten sonst noch?

Es stiftet Gemeinschaft zwischen dem Seelsorger und dem Betroffenen – weil sie es gemeinsam tun. Und es öffnet die Menschen manchmal. Oft sagen sie nach dem Gebet plötzlich noch mal zwei sehr persönliche Sätze mehr über den Verstorbenen und sie sind noch mal stärker berührt als vorher – weil sie etwas getan haben, was sie lange nicht getan haben. Eben: weil sie gebetet haben.

Was ist Ihnen bei der spirituellen Betreuung der Menschen wichtig?

Mir ist wichtig, dass wir als Notfallseelsorger in keiner Weise missionarisch auftreten, sondern dass wir als Anwalt der Menschen da sind. Und ich versuche sicherzustellen, dass es für die Menschen weitergeht. Wir sind ja nur punktuell da, zu diesem einen Einsatz und danach normalerweise nie wieder. Da ist es wichtig zu klären: Stimmt es, dass die Nachbarin morgen aus dem Urlaub zurückkommt und sich kümmern kann? Hilft Ihnen eine Vermittlung zu einem Trauercafé? Haben Sie Interesse an einem Kontakt zu einem Pastor, einer Gemeindereferentin oder einem Ehrenamtskreis?

Welcher Fall hat Sie mal besonders berührt?

Wenn Sie meine Frau fragen würden, die würde sagen: „Den berührt sowieso nichts.“ 

Und was sagen Sie?

Es gibt viele Momente, die mich berühren. Aber wir Notfallseelsorger haben einen großen Vorteil: Wir sind Außenstehende. Wir sind die Nichtbetroffenen. Wir haben also eigentlich eine gute und gesunde Distanz. Und wenn wir mal über einen Leichnam steigen müssen, der im Flur liegt, dann ist das vielleicht ungewohnt, aber das müssen wir dann halt machen. 

Sie klingen ziemlich abgeklärt.

Ich war früher Polizist. Und später, als ich bei der Kirche angefangen habe, habe ich mich auch deshalb für die Notfallseelsorge gemeldet, weil ich weiß, dass ich sowas kann. Ich habe in solchen Situationen nicht so wahnsinnig viele Berührungsängste. Aber natürlich sind Kindernotfälle immer schlimm. Als meine Kinder ganz klein waren, hab ich gesagt: „Zu einem plötzlichen Kindstod fahre ich nicht hin. Das ist mir zu heikel. Sonst fahre ich nach dem Einsatz nach Hause zurück und gucke in der Wiege nach, ob meine noch atmen. Das möchte ich nicht.“ Was mich auch schon öfter mal ernsthaft berührt, ist das Elend, das ich sehe. Ich komme häufig in Räume, in denen ich deutlich sehe, wie schlecht es vielen Menschen geht, wie arm und wie einsam sie sind, in welchen Zuständen sie leben müssen.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Einmal hat eine Frau, psychisch krank, in einer absoluten Messi-Wohnung sieben Tage im Hochsommer neben einem Leichnam gesessen. Da frage ich mich: Wie geht sowas? Wo leben wir, dass sowas passiert? Aber es gibt auch sonst viele Fälle, wo ich denke: Meine Güte! Häufig sind Betroffene ganz auf sich allein gestellt. Geschwister haben sie nicht oder sie leben weit weg im Altersheim. Und mit den Nachbarn läuft auch nichts. Da ahne ich: Das war hier schon vorher eine ganz schwierige Situation, und jetzt endet die in kompletter Einsamkeit.

Wie gehen Sie mit dieser Aussicht um?

Jeder Notfallseelsorger sollte Rituale haben, mit denen er Einsätze abschließen kann. 

Welche haben Sie?

Für mich ist es einfach. Weil ich Diakon bin, bin ich ohnehin mit dem Beten vertraut. Nach einem Einsatz setze ich mich zu Hause in eine Ecke, in den Hof oder auf die Terrasse. Früher habe ich dabei eine Zigarette geraucht. Heute rauche ich nicht mehr. Dann lasse ich alles noch mal kurz sacken. Schaue an, was war. Versuche loszulassen. Und vertraue mit einem kleinen Gebet Gott das an, was ich für den Betroffenen nun nicht mehr tun kann – weil ich ja schon weg bin. 

Wie wichtig ist Ihnen Ihr Glaube bei der Arbeit?

Wir Notfallseelsorger kommen getragen vom Glauben. Unsere Motivation, den Dienst anzubieten, hat mit Glauben zu tun. Wir gehen nicht einfach so an den Rand des Todes. Wir kommen als kleines Zeichen der Hoffnung. Ich habe mal den schönen Satz gelesen: Notfallseelsorge ist Seelsorge am Karsamstag. 

Wie ist das gemeint?

Da ist gerade was Schlimmes passiert, vielleicht ist die Hoffnung auf den Ostersonntag noch gar nicht so die prägende Kraft, aber sie ist schon nah. Und wir können sie spürbar machen. 

Können Sie noch genauer erklären, inwiefern Ihr Glaube Sie bei Ihrer Arbeit antreibt?

Mir ist bewusst, dass man nachts sehr viel schönere Dinge tun kann, als rauszufahren und über Leichen zu steigen. Man könnte ins Kino gehen, danach was Nettes trinken und dann schlafen. Aber mir war es schon immer wichtig, als Christ für andere da zu sein, wenn ich es kann. Ich habe dann immer den Satz von Jesus im Kopf: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ 

Ist dieser Satz für Sie der Kern des Glaubens?

Er ist ein entscheidender Teil davon. Ich mag schöne Liturgie und tollen Gesang und feiere gern Feste – keine Frage. Aber der Dienst am Nächsten ist für mich eben auch ein wichtiger Vollzug des Glaubens. Und ich bin überzeugt davon, dass wir ohne diesen Dienst als Christen schlecht leben können. Das ist meine Motivation, den Job als Notfallseelsorger zu machen. Ich hab schon oft gedacht: Als Kirche sind wir immer gut beraten, da zu sein, wo Menschen Nöte haben.

Und die Nöte der Menschen, die Sie betreuen, sind groß.

Das stimmt. Aber ich finde, man spricht zu oft von den schlimmen Fällen in der Notfallseelsorge – und davon, dass wir an den härtesten Kanten des Lebens arbeiten. Das ist Quatsch. Ich glaube, andere Berufe sind viel härter und belastender. Zum Beispiel in der Hospizarbeit, wo Menschen lange und langsam sterben. Oder im Altenheim: was da für Leidensgeschichten hinterstecken. Oder im Krankenhaus mit all den Überlastungen im System. 

Manchmal helfen die Notfallseelsorger nach schweren Verkehrsunfällen – und immer stimmen sie sich mit den Rettungskräften ab, die schon da sind. Fotos: imago/Becker & Bredel; imago/Fotostand

 

Wie prägt umgekehrt das, was Sie als Notfallseelsorger erleben, Ihren Glauben und Ihre Sicht aufs Leben?

Es macht mich nachdenklich – und auch dankbar. Weil ich sehe, dass es viele schlimme Situationen im Leben gibt. Und weil ich merke, in welch einer glücklichen Lage ich bin – weil es mir zurzeit besser geht und ich nicht von solchen Schicksalsschlägen betroffen bin. Was ich im Einsatz erlebe, macht mein Leben nicht dunkel. 

Und Ihren Glauben?

Meinen Glauben bestärken die Erlebnisse. Wir Notfallseelsorger sagen gern: Das Zeugnis, das wir geben können, ist das, was dem Gottesnamen JAHWE entspricht, also zu sagen „Ich bin da“. Und wir spüren, das höre ich von vielen Kollegen, dass dieses schlichte Dasein tatsächlich hilft. Wir wissen: Wir sind nicht alleine, Gott geht immer mit uns. Und manche Dinge passieren dann einfach so und wenden sich zum Guten. Das stärkt mein Vertrauen, dass wir mit Gottes Gegenwart wirklich rechnen dürfen.  

Können Sie das näher erläutern?

Ich merke oft: Ich habe getan, was ich konnte. Aber die Situation war doch komplex. Ich hab das nicht alleine hinbekommen, aber es hat trotzdem geklappt und alles ist einen Schritt besser geworden. 

Woran merken Sie das?

Daran, dass Leute uns direkt eine Rückmeldung geben: „Super, dass Sie da waren!“ Oder: „Das hat mir geholfen, dass Sie da waren.“ Daran merke ich: Okay, hier passiert was – nicht nur, weil ich das gut bearbeitet habe, sondern weil da Kräfte am Werk sind, die mit Gottes Segen funktionieren. Oft erzählen Menschen später auch ihren Freunden und Verwandten: „Mir ging’s in dieser Situation ganz schlecht. Und dann war irgendeiner von der Kirche da. Das war wirklich gut.“

Wie schön – gerade weil die Kirche sonst ja oft sehr negativ wahrgenommen wird.

Genau, wir Notfallseelsorger sind wirklich eine schöne Visitenkarte für die Kirche. Wenn Bischöfe betonen, wie wichtig die Notfallseelsorge ist, sage ich gern: „Wenn das so ist, dann müsst ihr vielleicht doch noch ein bisschen mehr Geld dafür geben.“ Denn wir haben nicht so viel, wie wir brauchen. Wir müssen oft um einen ausreichenden Etat kämpfen.

Was ändert es überhaupt für die Betroffenen, dass Sie als Notfallseelsorger von der Kirche kommen und nicht von einer weltlichen Institution?

Ich vermute, die ehrliche Antwort ist: Wenn man gut ausgebildet ist und tut, was Sinn macht, ist es für die Betroffenen egal, ob da ein christlicher Notfallseelsorger oder ein nichtchristlicher Notfallbegleiter kommt. Ich schweige auch mit jemandem, der nichts hören möchte zum Thema Glauben. Und ich stelle sogar mit jemandem Räucherstäbchen auf der Fensterbank auf, wenn ihm das hilft. Aber genauso wünsche ich mir von einem atheistischen oder muslimischen Notfallbegleiter, dass er bereit ist, mit einem Betroffenen auch ein Vaterunser zu beten. Diese Offenheit für die Betroffenen erwarte ich schließlich auch von einem Notfallseelsorger. Denn es geht ja nicht um uns – sondern um die Menschen, denen wir helfen. 

 

Andreas Lesch