Die Kirchen nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen

Wir müssen reden

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Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen mit Stimmen der AfD hat Deutschland erschüttert. Und sie hinterlässt Fragen: Wie soll künftig demokratische Politik funktionieren? Und: Was können wir tun, damit die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriftet?

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Zeichen des Protests: Susanne Hennig-Wellsow, Landeschefin
der Linken (nicht im Bild), hat Thomas Kemmerich nach seiner
Wahl zum Thüringer Ministerpräsidenten einen Blumenstrauß
vor die Füße geworfen.
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Claudio Kullmann ist überzeugt davon, dass man als Christ nicht unpolitisch sein kann. Er sagt: „Die Botschaft Jesu fordert uns immer wieder aufs Neue heraus, Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit zu formulieren.“ Kullmann leitet das Katholische Büro in Erfurt, er vertritt die Kirche gegenüber der Thüringer Politik – und drängende Fragen gibt es in der Politik gerade zuhauf. Denn der FDP-Politiker Thomas Kemmerich ist mit den Stimmen der AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt worden; mit den Stimmen des Landesverbandes von Björn Höcke, der laut Gerichtsurteil als Faschist bezeichnet werden darf.

Wie sehr diese Wahl das Land aufwühlt und die Politik erschüttert, zeigt Annegret Kramp-Karrenbauers Rückzug vom Bundesvorsitz der CDU. Vieles ist nun unklar: Wie können künftig in zunehmend zersplitterten Parlamenten Koalitionen entstehen? Wer soll mit wem zusammenarbeiten – und wo sind Grenzen? Und wie kann jeder von uns dazu beitragen, dass das Gesprächsklima im Land wieder milder wird?

Der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr sagt: „In Thüringen ist viel politisches Vertrauen verloren gegangen, zwischen den Politikern im Landtag untereinander genauso wie zwischen Bürgern und Politik andererseits.“ Immerhin hätten „die heftigen Reaktionen in allen demokratischen Parteien und der Zivilgesellschaft klargemacht, dass ein Paktieren mit der Rechten, bewusst verabredet oder billigend in Kauf genommen, von der überwältigenden Mehrheit in unserem Land nicht geduldet wird“. 

Ein guter Anfang: sich nicht über den Nächsten zu erheben

Dennoch werden die Debatten in jüngster Zeit schärfer und hitziger. Was tun? Bischof Neymeyr sagt: „Ein guter Anfang wäre, den Nächsten bewusster als Mensch wahrzunehmen und sich nicht über ihn erheben zu wollen.“ Kullmann regt an: „Vielleicht müssen wir auch wieder neu entdecken, direkter miteinander zu kommunizieren und uns mit anderen Meinungen zu konfrontieren.“ 

Dabei kann die Kirche helfen. Bischof Neymeyr sagt, mit ihren politischen Bildungsveranstaltungen könne sie dazu beitragen, demokratische Prozesse einzuüben und die Fragen der Zeit aus christlicher Perspektive zu reflektieren. Er stellt klar, die Kirche habe immer mit AfD-Anhängern gesprochen und werde das auch weiterhin tun. Kullmann fügt hinzu, AfD-Anhänger seien mit ihren Fragen und Sorgen in kirchlichen Räumen willkommen, wenn sie die grundlegenden Regeln des freien und respektvollen Austausches akzeptierten: „Das heißt aber noch lange nicht, dass wir AfD-Funktionären eine Bühne bieten müssten. Das machen wir auch nicht.“

Der Leiter des Katholischen Büros in Erfurt hält es für falsch, dass manch einer die AfD und die Linkspartei als rechte und linke Extremisten gewissermaßen gleichsetzt. Er betont: „Wir wenden uns gegen jede Form von Extremismus, von links, von rechts, im Namen einer Religion.“ Claudio Kullmann sagt aber auch: „Dass die Linkspartei sich in Thüringen extremistisch verhalten würde, davon merke ich nicht viel. Dass wir derzeit ein deutlich größeres Problem mit Rechtsextremismus haben, kann wohl keiner abstreiten.“  

Andreas Lesch