Balanceakt zwischen den Türmen des Wormser Doms

„Wir sind hier, wir halten dich“

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Wenige Menschen haben Worms je aus dieser Perspektive gesehen. Während der Festwoche zur Tausendjahrfeier des Wormser Doms können Mutige erstmals virtuell zwischen den Domtüren spazieren gehen. Von Christian Burger.

Ohne Netz und doppelten Boden: Domküster Markus Löhr steht zwischen den Osttürmen des Wormser Doms – in der virtuellen Realität. | Foto: Torsten Hemke, 3dtopevent.info
Ohne Netz und doppelten Boden: Domküster Markus Löhr steht zwischen den Osttürmen des Wormser Doms – in der virtuellen Realität. Foto: Torsten Hemke, 3dtopevent.info

Mit einem Klick am Hinterkopf passt sich die VR-Brille (Virtual Reality) dem Kopf an. Durch die Kopfhörer dringen entfernte Stadtgeräusche und Windrauschen. „Jetzt können Sie die Augen öffnen“, erlaubt die Stimme der Helferin Martina Bauer. Plötzlich umstrahlt greller blauer Himmel die Turmspitzen der Osttürme des Wormser Doms. Sie sind zum Greifen nahe. „Balancieren zwischen den Dom-Türmen“ heißt das besondere Virtual Reality-Projekt, das Besuchern am Festwochenende der Tausendjahrfeier des Wormser Doms eine neue 360-Grad Perspektive ermöglicht.

Auf einem Holzbalken in 50 Metern Höhe

Wer eben noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, findet sich innerhalb eines Wimpernschlags auf einem Holzbalken in circa 50 Metern Höhe zwischen den Domtürmen wieder. Es ist nicht unüblich, dass selbst Menschen ohne Höhenangst im ersten Moment wie angewurzelt stehen bleiben. Erste tapsige Schritte auf dem vermeintlichen Brett in der luftigen Höhe kosten Überwindung, doch kein Besucher wird allein gelassen. Mit führender Stimme und Hand sind Helfer in der Nähe. Und kurz darauf wandert fast jeder zwischen den Türmen hin und her und lässt seinen Blick über die winzigen Wormser Dächer bis zum Horizont und wieder zurück schweifen. „Es ist wirklich spannend, wie mit technischen Mitteln eine Realität mit allen Unsicherheiten und Ängsten erzeugt wird“, beschreibt es Propst Tobias Schäfer nach seinem Ausflug zwischen die Türme. „Man muss sich einfach darauf einlassen und sich den Dom auf diese Weise neu erschließen. Es eröffnet ein Gefühl von Freiheit.“

Torsten Hemke, 3-D-Künstler und Leiter des Projekts, kann selbst kaum glauben, wie gut das Ergebnis geworden ist. „In dieser Form wurde so etwas bisher noch nie versucht“, sagt er. In monatelanger Arbeit wurden ungezählte Drohnenfotos zu einem fotorealistischen 3-D-Objekt zusammengefügt. Der realistische Eindruck geht unter anderem darauf zurück, dass die VR-Brille jede Bewegung registriert und das Bild vom Computer daran angepasst wird, beispielsweise wenn man sich über den Holzbalken beugt und nach unten blickt. Hemke ergänzt: „Ich bin sehr dankbar, dass alle Beteiligten den Mut hatten, an das Projekt zu glauben.“ Als der Durchbruch gelungen war, habe auch bei ihm sofort die Höhenangst eingesetzt. Neben dem stimmigen Lichteinfall durch die fotogrammetrischen Aufnahmen (Bildmessung) und den akustischen Reizen über die Kopfhörer sorgt ein Ventilator zusätzlich für ein bisschen Wind, um das Erlebnis abzurunden.

Dr. Michael Klein, Leiter des Instituts für Neue Medien Frankfurt, das das Projekt unterstützt hat, erklärt: „So verschmilzt die Wirklichkeit mit den digitalen Räumen zu einer neuen Einheit. Man steht ganzheitlich in einer neuen Erfahrung.“

Ängste zu überwinden, stärkt Menschen

Doch es geht bei dem Projekt nicht nur um den Aussichtseffekt. „Man kann so viel über sich selbst und seinen Körper lernen, denn Angstgefühle gehören ganz normal zum Leben dazu“, erklärt Torsten Hemke. Vor allem Menschen mit Höhenangst kann mit VR-Technologie geholfen werden, berichtet Angsttherapeutin Dr. Karin Rüttgers aus Wesel, die sich auf die Therapie von Angst- und Panikattacken spezialisiert hat. Dabei ist es wichtig, die Schwelle langsam zu erhöhen, „und wenn wir unsere Ängste überwinden, stärkt uns das. Es bringt ein wohliges Gefühl“, sagt sie.

Das VR-Projekt bietet der Kirche eine Möglichkeit, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten und „reale Ängste wirken zu lassen“, sagt Torsten Hemke. Zugleich könne Kirche zeigen: „Wir sind hier, wir halten dich“.

Wie es mit dem Projekt nach den Jubiläumswochenende weitergehen wird, steht noch nicht fest.

Interessierte Besucher der Festwoche der Tausendjahrfeier des Wormser Doms finden noch bis zum 10. Juni den VR-Projektstand auf dem Domplatz rechts vom Südportal.

 

Meinung: Existenzielles am eigenen Leib erfahren

Von Anja Weiffen

Anja Weiffen Foto: Marie Eickhoff
Anja Weiffen
Foto: Marie Eickhoff

Hier geht’s nicht ums Spektakel – nur ein bisschen. Die Idee, virtuell seinen Höhenängsten auf der Spur zu sein, ist gut. Kompliment an die Gruppe um Torsten Hemke und an die Öffentlichkeitsarbeit des Bistums. Wer schon mal Sportklettern war, kann sicher bestätigen: Bei Höhenangst lernt man sich kennen. Bevor die Vernunft die Situation schön reden kann mit Sätzen wie „Du bist doch gesichert“ oder „Dir passiert schon nichts“, steigt unwillkürlich eine Urangst hoch. Vielleicht beginnen die Knie zu zittern oder die Arme suchen reflexhaft nach Halt. Denken nützt nichts. Und auch wer noch nie geklettert ist, hat vielleicht schon mal vom Fallen geträumt und erfahren, wie existenziell Höhenangst sein kann. Auch die Umgebung lernt man von einer ganz anderen Seite kennen. Alles, woran eine Hand Halt finden kann, wird zum Freund: ein Seil, ein Fels oder eine andere Hand. Hilfe anzunehmen, ist keine Frage mehr von Stolz, sondern eine Frage des Überlebens.

Wenn die Höhenangst überwunden ist, beginnt die Freiheit. Wie ein Vogel in der Höhe zu schweben oder „über den Dingen zu stehen“ – auch diese Erfahrung gehört zur Existenz des Menschen. Genauso wie das Fallen ist das Schweben ein Motiv in Träumen und zeigt, wie tief es in uns verankert ist. Nicht jeder kann oder will es in der Realität erleben und gleich einen Segelflugschein machen. In diesen Tagen besteht am Wormser Dom virtuell die Chance, echte Ängste zu überwinden und Freiheit genießen zu lernen. Zudem ist das Projekt ungefährlich, denn keiner braucht „in echt“ über den Balken zu balancieren. Und: Wenn Sie auf Augenhöhe mit den Domtürmen sind, können Sie schauen, ob die mittelalterlichen Steinmetze dort oben „zur Ehre Gottes“ gute Arbeit geleistet haben.