Ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine

"Wir sind stärker geworden"

Image
23_2_Ukraine_Mann_l.jpg

Seit einem Jahr führt Russland in der Ukraine einen Vernichtungskrieg. Wie geht es den Menschen dort? Was macht ihnen Angst, was schenkt ihnen Hoffnung, was lässt sie durchhalten? Stanislaw Szyrokoradiuk, der Bischof von Odessa, gibt Antworten.

Foto: imago/Le Pictorium
Alltag im Krieg: ein Mann inmitten von Trümmern in Bachmut, im Osten der Ukraine. Foto: imago/Le Pictorium

Von Andreas Lesch

In Odessa, erzählt Bischof Stanislaw Szyrokoradiuk, ist der Krieg zurzeit kaum zu spüren. Die Einkaufszentren, die Restaurants, die Banken – alles funktioniert. Manchmal feuert Russland Raketen auf die Stadt, aber die meisten fängt die Luftabwehr mittlerweile ab. Und an den Luftalarm haben die Menschen sich gewöhnt. Wenn mal der Strom ausfällt, helfen Generatoren. „Die Stadt lebt“, sagt Szyrokoradiuk. „Wir haben heute viel mehr Hoffnung als vor einem Jahr.“

Am 24. Februar 2022 ist Russlands Armee in die Ukraine einmarschiert. Sie bombardiert Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, versucht die Energieversorgung des Landes zu zerstören, begeht zahllose Kriegsverbrechen. „Russland will die Ukraine vernichten“, sagt Szyrokoradiuk. „Was hier passiert, ist eindeutig Völkermord.“ Aber sein Land hält stand und gibt nicht auf. Er ist sicher: „Wir sind im vergangenen Jahr stärker geworden.“ Denn die Ukrainer wissen jetzt, dass ihr Widerstand Erfolg haben kann. Sie halten zusammen. Und sie werden vom Westen unterstützt – durch Spenden, Waffen und Sanktionen gegen Russland.

Die Hilfe sei enorm wichtig, betont der Bischof. Die Spenden würden helfen, Häuser wieder aufzubauen, Geflüchtete zu versorgen und Lebensmittelpakete zu verteilen. Auch zu ihm kommen viele Bedürftige, „und keiner geht mit leeren Händen zurück – dank dieser Hilfe“. Die Waffen, sagt der Bischof, seien notwendig, um gegen den Aggressor bestehen zu können: „Waffen sind das beste Argument gegen Putin. Andere Argumente versteht er nicht.“

Inmitten des Horrors versuchen die Ukrainer weiterzuleben. Szyrokoradiuk weiß, dass der Krieg in vielen Städten des Landes schlimmer tobt als in Odessa. Etwa in Kramatorsk oder Bachmut. „Diese Städte sind totale Ruinen.“ Und doch harren dort Menschen aus, in Kellern, ohne Wasser, ohne Strom. Helfer bringen ihnen Wasser und Essen. Bald, fürchten Experten, könnten die Russen eine Frühjahrsoffensive beginnen. Hat der Bischof Angst? „Angst haben wir immer“, sagt er. „Denn es ist Krieg.“ 

„Wir beten viel, und die ganze Welt betet für uns“

Vielen hilft jetzt der Glaube. Der Bischof erzählt, Erwachsene, die früher kein Interesse an Religion gehabt hätten, ließen sich jetzt taufen. Und Soldaten kämen vor Kämpfen, um zu beten und zu beichten. Die Gottesdienste seien voll. Am schlimmsten für ihn sei es, wenn er junge Männer beerdigen müsse, die im Krieg gefallen sind: „Was soll ich ihren Witwen sagen?“ 

Aber Szyrokoradiuk verzweifelt nicht. Er sagt: „Wir beten viel, und die ganze Welt betet für uns.“ Er glaubt, das Gebet bewirkt etwas. Und er glaubt und hofft, dass der Krieg bald ein Ende findet. Wie ein Weg zum Frieden aussehen kann, das weiß der Bischof nicht. Er sagt nur: „Wir sind bereit zu Barmherzigkeit und zum Verzeihen.“ Aber erst einmal müsse Russland die Not bereuen, die es verursacht: all die Toten, all die Verletzten, all die Zerstörung und all das Leid. Davon, sagt Stanislaw Szyrokoradiuk, merke er bisher nichts. Bisher machten die Angreifer nur weiter – mit den Bomben, dem Blutvergießen, dem Bösen. „Und ich weiß nicht warum.“