Teil 1 unserer Adventsserie
Wohin des Wegs?
Erster Advent. Wir gehen auf Weihnachten zu. Mancherorts wird der Stall von Betlehem bereits aufgebaut. Noch leer. Nach und nach werden Figuren hinzugestellt. Jetzt aber ist da vorerst nur: der Weg.
Von Hubertus Büker
M itunter wünscht man sich in die eine oder andere Parallelwelt hinein. Dorthin, wo das eigene Leben so durchgespielt wird, wie es verlaufen wäre, hätte man einst andere, gar gegenteilige Entscheidungen getroffen. Hätte beispielsweise einen anderen Beruf gewählt. Dann wären einem zahlreiche Menschen, die man kennen- und schätzen gelernt hat, nicht begegnet, stattdessen viele andere; wahrscheinlich würde man woanders wohnen; womöglich mehr verdienen. Der eine Beschluss hat den ganzen Lebensweg bestimmt. Und man hat keine Ahnung, was geschehen wäre, wenn …
Der Nebel ist dichter als sonst
Und es sind ja keineswegs nur die erkennbar wichtigen Weichenstellungen: Berufswahl. Heirat. Ein Haus bauen. Es sind oft die alltäglichen, unscheinbaren Entscheidungen, die unvermutete Auswirkungen nach sich ziehen. Und es sind die Zufälle, die Zwänge, die Verpflichtungen, Unglücke, gute oder schlechte Ratschläge – den Lebensweg bestimmt man schließlich nicht nur selbst, er wird auch bestimmt.
Wer zurückblickt auf den Weg, den er zurückgelegt hat, entdeckt so einige Abzweigungen und Kreuzungen, die eine Richtungsänderung ermöglich hätten. Verpasste Chancen? Versäumte Gelegenheiten? Unnötige Umwege? Oder wäre im Gegenteil manches erheblich schlimmer gekommen? Man wird es nie erfahren. Aber wüsste es doch zu gerne. Leider existieren diese Parallelwelten nicht, die uns Auskunft geben könnten, was aus uns geworden wäre, falls uns die eigenen Entscheidungen oder das Schicksal auf andere Wege geführt hätten.
Will sagen: Sogar die Wege, die wir gegangen sind, bleiben letzten Endes rätselhaft. Immerhin können wir sie uns anschauen. Aus unseren Erfahrungen Schlüsse ziehen. Aus Fehlern lernen. Der Künstler Ernst Barlach befand sogar: „Ein Weg braucht kein Wohin, es genügt ein Woher.“ Die Vergangenheit, heißt das wohl, liefert die Orientierung für die Zukunft. Wer sich die eigene Geschichte bewusstmacht, erkennt, wohin er steuern muss. Das erinnert an das Bild des Ruderers: Während er sein Boot nach vorn bewegt, blickt er nach hinten.
Doch reicht der Blick zurück wirklich aus, um sicher voranzuschreiten auf dem Weg, der vor uns liegt? Die Frage stellt sich in diesem Corona-Advent im Jahre des Herrn 2020 mit geradezu atemberaubender Wucht. Wir gehen auf die vielbeschworene schönste Zeit des Jahres zu und wissen alle miteinander nicht, welches Weihnachten uns erwartet. Und was danach kommt. Zugegeben, die Zukunft liegt immer im Nebel des Ungewissen. Diesmal aber wirkt der Nebel grauer, dichter, bedrohlicher als sonst. Wohin also des Wegs?
Noch sind nur Umrisse sichtbar
Manch Konkretes haben wir in diesem Jahr gelernt. Wir können die Gefahr einer Ansteckung mit dieser Krankheit, die sich noch nicht heilen lässt, verringern. Abstand, Hygiene, Mundschutz, lüften. Wir wissen, wie wir uns verhalten müssen. Welche Haltungen wir üben müssen: aufeinander achten, Rücksicht nehmen, solidarisch sein, verzichten. Wehrlos ausgeliefert sind wir nicht. Wir müssen nicht vor Angst erstarren.
Aber wir hatten uns daran gewöhnt, die Zukunft zu planen, die nächsten Schritte, die wir gehen wollen. Nun mussten wir vieles von dem, was schon lange im Terminkalender stand, verschieben und streichen. Und das dürfte wohl noch eine Weile so bleiben. Was morgen kommt, wie Weihnachten wird, was das neue Jahr bringt – wir können das alles nicht mehr einigermaßen verlässlich kalkulieren. Das macht unsicher, zaghaft, verkrampft.
Worauf können wir bauen? Einen Hinweis gibt der Prophet Jesaja in der Lesung vom ersten Adventssonntag. Gott, heißt es da, komme jenen entgegen, „die auf deinen Wegen an dich denken (…); bleiben wir künftig auf ihnen, werden wir gerettet werden“. Mit Gottvertrauen kann es also gehen. „Denn“, sagt Psalm 91,12, „er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.“
Paulus will uns im 1. Korintherbrief einen, wie er verheißungsvoll formuliert, „überragenden Weg“ zeigen und leitet damit einen der berühmtesten Texte der Bibel überhaupt ein, äußerst beliebt bei Trauungen: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.“
Der „überragende Weg“ ist für Paulus also der Weg der Liebe. Und zwar mit Blickrichtung auf die Ewigkeit: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse“; doch „wenn das Vollendete kommt“, dann „schauen wir von Angesicht zu Angesicht“. Den Weg der Liebe gehen, den Himmel fest im Blick – das wäre also die Empfehlung des Paulus. Gültig für alle Zeiten, in diesen vielleicht besonders.