Lebensqualität bei Demenz
Wohlgefühl dank Märchen
Es war einmal ... daran können sich viele Menschen gut erinnern, auch wenn sonst manches vergessen ist. Dr. Arthur Schall forscht an der Altersmedizin der Goethe-Universität unter anderem zu Lebensqualität bei Demenz. Ruth Lehnen hat ihn gefragt: Wie helfen Märchen?
Herr Dr. Schall, Sie haben das Forschungsprojekt „Unvergessen – Aktivierung durch Märchen“ begleitet. Warum kann zum Beispiel der „Froschkönig“ für eine gute Stunde im Leben von Menschen mit Demenz sorgen?
Arthur Schall: Ob „Froschkönig“, „Schneewittchen“ oder „Hänsel und Gretel“, Märchen wecken Erinnerungen an die früheste Kindheit, eine Zeit also, die oftmals als glücklich und geborgen erlebt wurde. Und selbst wenn das Gedächtnis demenzbedingt nachlässt, bleiben die damit verbundenen positiven Emotionen irgendwo tief im Gehirn verborgen. Das Erzählen und das nochmalige Durchleben der Kindheitsmärchen können beim Aufspüren dieser emotionalen Erlebnisse helfen und sogar verlorengeglaubte Gedächtnisinhalte zutage fördern.
Auch altbekannte märchentypische Floskeln wie „Es war einmal …“ oder „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ werden von Menschen mit Demenz erinnert, könnten auf Nachfrage vervollständigt werden und so zu kleinen Erfolgsmomenten führen. Darüber hinaus sorgen in Gruppen abgehaltene Märchenstunden für soziales Miteinander und vermitteln Gefühle von Gemeinschaft und Angenommensein.
Sie haben mit professionellen Märchenerzählerinnen zusammengearbeitet, die Pflegekräfte geschult haben. Wie könnten Angehörige Ihre Anregungen aufgreifen?
Ein von Profis vorgetragenes Märchen ist ein unvergessliches Erlebnis. Doch gibt es mittlerweile zahlreiche Angebote, so dass man sich auch als Laie in diesem Bereich schulen lassen kann. Und selbst ohne eine professionelle Ausbildung sollte man nicht davor zurückschrecken, es mal auszuprobieren. Gerade die betreuenden Angehörigen wissen meist ganz genau, was ihre Menschen mit Demenz früher gern gehört oder gelesen haben. Je weiter dieses Wissen in die jeweilige Jugend oder sogar Kindheit zurückreicht, umso besser!
Wenn man sich dennoch unsicher ist, sollte man einfach mit den (zumindest in unseren Breitengraden) bekanntesten Märchen wie „Dornröschen“ oder eben dem „Froschkönig“ beginnen. Ein paar zum Märcheninhalt passende Requisiten können der zusätzlichen Aktivierung dienen: Plüschtiere, Blumen, Trink- und Essbares – hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, so lange dadurch möglichst viele Sinne angesprochen werden. Wichtig dabei ist, sich am momentanen Befinden der Erkrankten zu orientieren, um Überforderungen zu vermeiden. Werden die Zuhörenden sichtlich müde, sollte das Märchen beendet werden. In der Praxis haben sich etwa halbstündige Märchensitzungen bewährt.
Naja, die Märchenstunde wird schnell wieder vergessen sein, mag sich mancher denken. Warum ist das kein gutes Argument?
Menschen mit Demenz leben im Hier und Jetzt. Bei Einsatz von Märchen geht es vor allem darum, diesen Menschen Augenblicke der Geborgenheit und des Wohlbefindens zu schenken. Gerade weil die Demenz gegenwärtig noch nicht heilbar ist, sollte das Ziel sein, den Erkrankten möglichst viel Lebensqualität zuteil werden zu lassen. So kann eine Märchenstunde, die zugleich Vertrautes wie Anregendes bietet, in der sie sich einbringen und Emotionen äußern können, etwas sehr Wertvolles für die Betroffenen sein. Die positiven emotionalen Impulse wirken weiter, selbst dann, wenn man sich (scheinbar) nicht mehr daran erinnert.
Worauf sollten Pflegende achten bei der Auswahl der Märchen?
Den Zugang zu demenziell erkrankten Menschen findet man am besten über deren individuelle Biografie. Das, was jemanden in der Kindheit und Jugend emotional berührt und geprägt hat, kann als „kommunikative Brücke“ dienen. Besonders stark sind diese Verknüpfungen bei biografisch bedeutsamer Musik – sogar bis in die Spätphase der Demenz. Zum Märchen passende Lieder können also sehr hilfreich sein!
Was die Auswahl der Märchen angeht, so sollte auch hier zuallererst die Frage nach der „Märchen-Biografie“ des Menschen mit Demenz stehen: Welchem Kulturkreis entstammt die Person? Wurden von Eltern oder Großeltern Märchen vorgelesen oder erzählt? Gibt es besondere Lieblingsmärchen? All diese Fragen könnten nahestehende Angehörigen vermutlich am besten beantworten.
Interview: Ruth Lehnen
E-Mail: schall@allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de
Zur Sache
Aktivierung durch Märchen
„Unvergessen – Aktivierung durch Märchen“ ist ein Forschungsprojekt an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Es wurde mithilfe von Fragebögen und Videoanalysen untersucht, inwieweit Märchenerzählungen Stimmung, Wohlbefinden und Lebensqualität von Demenzkranken beeinflussen können. Zudem ging es darum, Fortbildungen für ausgewählte Pflege- und Betreuungspersonen zu entwickeln. Das Projekt „Unvergessen“ wurde in Kooperation mit der erfahrenen Märchenerzählerin Sabine Meyer vom Erzähltheater Osnabrück realisiert. Sie bietet neben Märchenerzählungen zu diversen Anlässen auch Workshops und Weiterbildungen an. Auch im Projekt „Märchenland“ wurde der Wirkung von Märchen auf Menschen mit Demenz nachgegangen. Im Internet finden sich weitere Angebote zu Geschichten- und Märchen-erzähler/innen.