Päpstlicher Kinderschützer im Interview
Zollner: Konsequente Aufarbeitung fehlt
Weltweit treibt der Jesuitenpater Hans Zollner den Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche voran. Im Interview erklärt er, warum die deutschen Bistümer gemeinsame Standards brauchen – und warum es notwendig sein kann, vermeintliche Heilige vom Sockel zu stoßen.
Wie bewerten Sie die Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche in Deutschland bis heute?
Ein Gutteil der Diözesen hat mittlerweile die Vereinbarungen mit dem Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung unterschrieben oder ist dabei, sie zu unterschreiben. Einige haben Aufarbeitungskommissionen konstituiert, und die meisten sind dabei, das zu tun. Also, es ist einiges in Bewegung. Aber die Frage ist nach wie vor: Was bedeutet denn Aufarbeitung?
Wie meinen Sie das?
Für mich kann Aufarbeitung nicht nur eine juristische Betrachtung sein. Sie muss andere Perspektiven miteinbeziehen, vor allem die der Betroffenen. Und sie muss auch die moralische Verantwortung und das Selbstverständnis der Kirche in den Mittelpunkt rücken. Aufarbeitung muss Fragen nach der Struktur und der Organisation stellen. Wenn es darum geht, diese anderen Dimensionen von Aufarbeitung miteinzubeziehen, ist in Deutschland sicherlich Luft nach oben.
Die fehlende Betroffenenperspektive haben Sie zuletzt bei der Missbrauchsstudie des Erzbistums Köln kritisiert. Wie müsste eine Aufarbeitung aussehen, in der diese Perspektive angemessen berücksichtigt ist?
Zunächst muss man frühzeitig mit Betroffenen darüber sprechen, was ihre Erwartungshaltungen an die Aufarbeitung sind. Man muss das detailliert durchbuchstabieren. Das erfordert Energie und Mut und sicherlich auch die Fähigkeit, unterschiedliche Positionen unter Betroffenen stehen zu lassen und in verschiedene Richtungen zu gehen. Denn es gibt nun mal unter Betroffenen sehr unterschiedliche Vorstellungen, was gerecht ist und was nottut.
Warum ist es so wichtig, Betroffene frühzeitig einzubinden?
Weil es eines der wichtigsten Anliegen der Betroffenen ist, dass die Kirche die Bedingungen der Aufarbeitung nicht schon definiert hat, ohne sie anzuhören. Es ist notwendig, dass nicht eine Aufarbeitungskommission mit einem Statut agiert, das von einer Diözese im Vorhinein festgelegt ist. Dieses Statut muss zunächst mit den Betroffenen diskutiert werden.
Wie beurteilen Sie die Aufarbeitung in den einzelnen deutschen Diözesen?
Die Diözesen gehen sehr unterschiedliche Wege. Einige gehen sehr gute, nachvollziehbare Wege – ohne damit große Schlagzeilen zu machen. Sie lassen sich auf etwas ein, von dem sie nicht wissen, was dabei rauskommt und welche Spannungen dabei vielleicht noch auftauchen. In Mainz oder in Würzburg zum Beispiel bemüht man sich nach meinem Eindruck sehr, einen Kontakt zu Betroffenen herzustellen, aber auch da gibt es immer jemand, der oder die sich nicht repräsentiert sehen, das ist die Realität.
Geht es an anderen Orten noch zu sehr um Systemerhalt und Selbstschutz der Kirche? Im Missbrauchsgutachten des Erzbistums Berlin etwa wurden konkrete Informationen über die Fälle nicht veröffentlicht, Täter nicht benannt.
Ich kann nicht nachvollziehen, warum man nicht reinen Tisch macht und im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten Namen von Verantwortlichen benennt. Das ist natürlich schwierig, aber wenn man die rechtlichen Fragen geklärt hat, dann muss man das tun. Um der Gerechtigkeit willen den Betroffenen und auch den Kirchenmitgliedern gegenüber. Die müssen ja auch wissen, woran sie sind und wer Verantwortung hatte.
Oft kommen dabei unangenehme Wahrheiten ans Licht.
Natürlich! Wenn man konsequent aufklärt, stürzt man Menschen vom Sockel, die man verehrt und als großartige Menschen gekannt hat, als sehr begabte Seelsorger, die sich um die Kirche und die Gläubigen verdient gemacht haben. Aber wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass diese Menschen Heilige ohne Makel waren. Denn diese Wunschvorstellung ist offensichtlich falsch – und wenn sie falsch ist, muss man das auch zugeben. Heiligkeit im Sinne einer makellosen Perfektion ist auf der Erde nicht zu erreichen. Die menschliche Enttäuschung, die durch den Sturz vom Sockel entsteht, muss man in Kauf nehmen und angemessen auch spirituell mit Schuld und Vergebung umgehen.
Welche nächsten Schritte müssen die deutschen Bistümer bei der Aufarbeitung jetzt gehen?
Die Bistümer sollten sich auf gemeinsame Standards einigen. Das ist wirklich notwendig. Im Moment geht jedes Bistum für sich vor. Manchmal steht der Wunsch dahinter, gut dazustehen – oder das Thema schnell abzuräumen. Aber es ist ein Trugschluss, dass das funktionieren kann. Das Thema Missbrauch wird uns noch lange beschäftigen. Es wird nicht in fünf Jahren vorbei sein, wenn die Aufarbeitungskommissionen ihre Arbeit beendet haben und Zahlungen an Betroffene geleistet sein werden.
Zur Person
Warum nicht?
Weil es bei der Aufarbeitung ja nicht nur um einzelne Fälle geht, sondern um tiefgreifende Fragen: Wie konnte es sein, dass eine Institution über Jahrzehnte schuldhaft, auch gegen ihre eigenen Kirchengesetze agiert hat? Wie konnte es sein, dass der Täterschutz vor dem Opferschutz stand? Wie konnte es sein, dass Laien, die sich was haben zuschulden kommen lassen, automatisch strenger behandelt wurden als Kleriker – wie etwa in Köln? Und wo muss man ansetzen, damit sich all das ändert? Es ist unsere Pflicht, diese Fragen zu klären – gerade weil die meisten Missbrauchsfälle strafrechtlich schon verjährt sind.
Viele Gläubige wollen das Thema Missbrauch nicht mehr hören. Was müsste die Kirche tun, um ihnen klarzumachen, dass die Beschäftigung damit unumgänglich ist?
Die Aufarbeitung des Missbrauchs ist ein zentrales Thema für die Kirche. Sie trägt Verantwortung für die Betroffenen, die in ihrer Persönlichkeit und in ihrem Glauben zutiefst verletzt worden sind. Viele in der Kirche sehen nicht die gravierenden vielfältigen, auch spirituellen Wunden, die Betroffenen geschlagen werden. Wenn es in der Kirche darum gehen soll, dass Menschen an Gott glauben und Jesus folgen können, dann müssen wir uns ohne Zögern jenen zuwenden, die in der Kirche durch Missbrauch ihren Glauben verloren haben, ihr Vertrauen in die Institution Kirche und ihre Repräsentanten, vielleicht sogar ins Leben insgesamt.
Warum ist das so zentral?
Wenn Missbrauch in dieser Institution geschehen ist, die eigentlich das Vertrauen zu Gott als Kernbotschaft hat, dann ist das doch nicht irgendwas, das man einfach abschütteln kann. Ich weiß, dass dieses Thema auch in der Gesellschaft insgesamt auf großes, existenzielles Unbehagen stößt. In der Kirche sind Menschen benutzt, verletzt und erniedrigt worden. Es ist notwendig, das anzuschauen vor Gott, im Zusammenhang mit seinem Ruf zur Umkehr und seinem Angebot der Vergebung. Wenn die Kirche das nicht macht, verfehlt sie ihr Wesen – entsprechend ihrem eigenen Selbstverständnis.
Wozu führt das dann?
Solange wir nicht wie analog in der Einzelbeichte als Institution Sünden bereuen, Schuld bekennen und Wiedergutmachung leisten, wird uns das Thema beschäftigen. Und je mehr wir uns dagegen wehren, umso länger wird es uns erhalten bleiben. Es gibt keine andere Möglichkeit, als sich dem Thema mit offenem Visier zu stellen.
Zur Sache
Sie kümmern sich weltweit um Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch. Wie steht die deutsche Kirche im weltkirchlichen Vergleich da?
Bei der Prävention liegt die deutsche Kirche mit einigen angelsächsischen Ländern sehr weit vorn. Bei der Aufarbeitung sind wir im Vergleich zu den Vorreitern Australien, USA und Irland hintendran. Das hängt damit zusammen, dass in diesen Ländern staatliche Kommissionen eingesetzt werden konnten. Das geht nach unserem Rechtssystem bisher nicht, und das wird schwierig bleiben – auch wenn da das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Immerhin ist bei uns in den vergangenen Monaten ein immenser öffentlicher Druck auf die Kirche spürbar. Das hilft. Wirklich tragisch finde ich, dass die deutschen Präventionsbemühungen immer wieder infrage gestellt werden, weil eine konsequente Aufarbeitung fehlt. Ohne solch eine Aufarbeitung steht die Präventionsarbeit immer unter dem Verdacht des Reinwaschens, das nichts zu tun hat mit einer echten Übernahme von Verantwortung.
Wo in der Weltkirche kommt die Missbrauchsaufarbeitung besonders gut voran?
Frankreich hat bei der Aufarbeitung wichtige Schritte gemacht. Die französische Bischofskonferenz hat ohnehin einige Ansätze, die mir wegweisend erscheinen: Sie hat vor einigen Jahren beschlossen, dass sie die Opferperspektive bei jeder Vollversammlung an den Anfang ihrer Tagung stellt. Die französischen Bischöfe haben einen spirituell fundierten Ansatz, keinen vorwiegend juristischen. Die Nähe zu Betroffenen ist vielen von ihnen ein persönliches Anliegen. Vor einigen Monaten haben sie eine unabhängige Kommission eingerichtet, die jetzt deutlich höhere Betroffenenzahlen an den Tag bringen wird, als bisher zu vermuten war. Aber dieser Wahrheit müssen wir ins Gesicht schauen.
Wo sehen Sie noch Fortschritte?
Ich halte auch die österreichische Vorgehensweise für sehr gut: Dort hat eine Politikerin, Waltraud Klasnic, mit einem unabhängigen Beirat Vorschläge für die Vorgehensweise bei Anschuldigungen vorgelegt – und die Bischofskonferenz ist diesen Vorschlägen immer gefolgt.
Welche Fortschritte gibt es außerhalb Europas und der angelsächsischen Länder?
In Lateinamerika ist ziemlich viel Bewegung – auch in Ländern, die bisher kaum etwas getan hatten. Ich sehe in Kolumbien deutliche Fortschritte, und auch in Paraguay sowie Bolivien wächst das Interesse. In Brasilien hat sich die Bischofskonferenz zuletzt mit dem Thema Aufarbeitungskommissionen auseinandergesetzt, ich war vor wenigen Wochen erst bei einem großen Treffen mit Laien dabei.
Und in Afrika?
In Ländern wie Südafrika und Simbabwe hat sich einiges getan – trotz aller politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Sie stehen bei weitem noch nicht da, wo sie stehen müssten. Aber sie sind auf dem Weg. Ob sich etwas tut, hängt immer sehr stark davon ab, ob es unter den Bischöfen Leute gibt, die das Anliegen pushen. Beachtlich ist, dass die Jesuiten für alle ihre Institutionen in Afrika flächendeckend Präventionsschulungen eingeführt haben. Das finde ich wegweisend.
Papst Franziskus hat kürzlich gesagt, es brauche ein „größeres Bewusstsein für die Schwere und das Ausmaß des sexuellen Kindesmissbrauchs“. Wie groß ist dieses Bewusstsein im Vatikan selbst überhaupt?
Der Vatikan ist in der Zusammensetzung seines Personals ein Spiegel der Weltkirche. Ich beobachte, dass es dort Leute gibt, die das Problem leugnen, nur kosmetische Konsequenzen wollen und das Thema am liebsten abschließen würden. Ich arbeite dort aber auch mit Leuten, die wissen, dass wir weltkirchlich noch viele Jahre damit zu tun haben werden. Leute, die die systemischen Probleme der Kirche aufklären und aufarbeiten wollen und die mit Betroffenen in Kontakt sind.
Welche Rolle spielt Papst Franziskus dabei?
Der Papst ist sehr regelmäßig mit Betroffenen in Kontakt und hat über die Jahre sehr viel dazugelernt darüber, wie tief ihre spirituellen Wunden sind und dass man das nicht einfach nur wegschieben kann. Das hat er ja auch selbst gesagt. Insofern verstehe ich es als ein deutliches Signal, dass er den Chilenen Juan Carlos Cruz, einen weltweit sehr bekannten Betroffenenvertreter, in die Päpstliche Kinderschutzkommission berufen hat. Klar ist dennoch: Der Kampf gegen den sexuellen Missbrauch wird noch ein langer Weg sein. Wir werden da ebenfalls im CCP, in unserem Zentrum für Kinderschutz, konsequent dranbleiben müssen.
Manchmal wirkt der Vatikan bei der Aufarbeitung des Missbrauchs nicht konsequent – und missachtet seine eigenen Regeln. Er hat sich kürzlich nicht in der im Kirchenrecht vorgesehenen Frist von 30 Tagen zu einer Untersuchung der Vertuschungsvorwürfe gegen den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki geäußert. Wie erklären Sie sich das?
Ich vermute, dass der Vatikan derzeit einfach überrollt wird von solchen Meldungen, und dass die Verzögerung an der Arbeitsüberlastung der entsprechenden Kongregation liegt. Soweit ich weiß, muss sie allein mehrere solcher Meldungen aus Polen bearbeiten. Aber die Kongregation ist leider nicht entsprechend ausgestattet, um diese Dinge so abzuarbeiten, wie es eigentlich sein müsste.
Interview: Andreas Lesch