Jahresserie 2020: Hoffnungsgeschichten

Zukunft und Hoffnung – jetzt erst recht

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Die Trauer über die Opfer der Mordnacht liegt immer noch über Hanau. Das Attentat wirkt nach. Und doch lebt in den Köpfen und Herzen von Menschen der verschiedenen Religionen in der Stadt die Zuversicht. Von Hans-Joachim Stoehr.

Blumenmeer Foto: Hans-Joachim Stoehr
Ein Meer aus Blumen und Grablichtern rund um das Denkmal der Brüder Grimm in Hanau. Die wurden in Hanau geboren – wie einige Opfer der rassistisch motivierten Bluttat. Foto: Hans-Joachim Stoehr

Am Hanauer Hauptbahnhof, im Bus und später am Marktplatz in der Innenstadt fällt die Stille auf. Es ist ein regnerischer Tag – drei Wochen nach der immer noch unfassbaren Tat eines Mannes, der in der Nacht zum 19. Februar zehn Menschenleben ausgelöscht hat. Aus rassistischen Motiven. Auf dem Marktplatz erinnert weithin sichtbar ein Meer aus Blumen und Grablichtern rund um das Denkmal der Brüder Grimm an das grausame Geschehen und die Opfer. Jacob und Wilhelm Grimm erblickten in Hanau das Licht der Welt – wie einige der Opfer der Bluttat. Passanten bleiben immer wieder stehen, verharren einen Moment in Stille und gehen weiter. 

„In den Tagen nach den Morden herrschte hier eine gespenstische Stille. Menschen unterhielten sich – wenn überhaupt – nur still“, erinnert sich Pfarrer Dirk Krenzer. Er ist Seelsorger der Hanauer Stadtpfarrei Mariae Namen. Die Pfarrkirche befindet sich in der Innenstadt, nicht weit weg vom Marktplatz mit den vielen Blumen und Grablichtern, die stumm auf das Leid der Hinterbliebenen hinweisen – aber auch auf die Hoffnung, dass das Leid nicht das letzte Wort hat. „Was ich aber nie gehört habe, war das Wort Vergeltung“, fügt Pfarrer Krenzer hinzu. 

In Jahren gewachsenes Miteinander im Alltag 

Im Sommer des vergangenen Jahres präsentierte sich der Marktplatz ganz anders. Da wurde im Zentrum Hanaus ein fröhliches Fest der Religionen gefeiert. An Ständen stellten sich die verschiedenen Religionsgemeinschaften vor und luden zum Austausch. „Die evangelischen und katholischen Kirchengemeinden hatten als Zeichen der ökumenischen Verbundenheit ein gemeinsames Zelt“, denkt die evangelische Pfarrerin Heike Mause gern an diesen Tag zurück. Auf der Bühne reichten sich die Religionsvertreter die Hände: „Und dieser Funke sprang auf die Menschen auf dem Platz über.“ 

Die Pfarrerin erinnert sich an eine weitere Aktion auf dem Marktplatz: die „Tafel der Toleranz“. Da wurde aus mehreren Tischen eine große Tafel aufgebaut. Jeder brachte Essen mit – eine Vielfalt an Speisen und Menschen. Dieses in Jahren gewachsene Miteinander bei Festen und im Alltag ist für Mause die Hoffnung, dass nach der einschneidenden Erfahrung vom 19. Februar sich Gewalt und Ausgrenzung nicht durchsetzen werden. 

Die Lehrerin Ricarda Sommer- Charrier setzt sich aktiv für das Miteinander der Religionen ein. Die Pädagogin ist Mitglied im Pfarrgemeinderat von Mariae Namen und als eine Vertreterin der katholischen Kirche beim Runden Tisch der Religionen dabei. Zum Runden Tisch lädt die Stadt Hanau ein. Durch die Treffen sei ein gutes Miteinander, seien Freundschaften entstanden. 

Am Tag vor der rassistischen Tat traf sich Sommer-Charrier mit anderen Mitgliedern des Runden Tischs, um über das nächste Fest der Religionen zu sprechen. „Dabei ging es darum, das Fest schon 2021 zu veranstalten. Ursprünglich sollte es wegen des Ökumenischen Kirchentags in Frankfurt im nächsten Jahr erst 2022 stattfinden“, so Sommer-Charrier. Und dann kam dieser Amoklauf. 

Hoffnung auf die junge Generation setzen 

Pfarrer Dirk Krenzer, Ricarda Sommer-Charrier und Pfarrerin Heike Mause (von links) setzen ihre Hoffnung auch auf das gute Miteinander von Konfessionen und Religionen in der Stadt. Foto: Hans-Joachim Stoehr
Pfarrer Dirk Krenzer, Ricarda Sommer-Charrier und Pfarrerin Heike Mause (von links) setzen ihre Hoffnung auch auf das gute Miteinander von Konfessionen und Religionen in der Stadt. Foto: Hans-Joachim Stoehr

Einer der Tatorte des 19. Februar ist die Shisha-Bar „Midnight“ am Heumarkt. Vor dem Gebäude liegen viele Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Menschen, die hier so jäh aus Leben gerissen wurden. Eine Gruppe von Schülern kommt mit ihren Lehrerinnen zu der Stelle. Ein Mädchen legt eine Tulpe zu den anderen Blumen dazu. Und dann holt die Lehrerin die Schüler wieder in das Leben mit seinen Freuden zurück. „Und wo wollen wir jetzt hingehen? Wie wäre es mit der Gummibärchenbar?“ Die Kinder nicken zustimmend. 

Ricarda Sommer-Charrier setzt ihre Hoffnung auf die junge Generation. „Sie sind neugierig, interessieren sich wechselseitig für die Religion ihrer Freunde, fragen nach. „Das erlebe ich immer wieder im Unterricht.“ Die Pädagogin hat Kinder gebeten, „Toleranz“ zu malen. Die Kinder hätten dann einen Kreis mit vielen bunten Farben ausgemalt. „Das lässt mich hoffen, dass bei ihnen etwas ankommt von meinem Anliegen des Miteinanders. Nicht erst in der Schule ist das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Religionen Alltag. Bereits in den Kindertagesstätten ist dies Realität. Muslimische Väter oder Mütter sind beispielsweise in Elternbeiräten von kirchlichen Kitas engagiert. 

Kinder setzten auch bei einem Gottesdienst nach dem Attentat in der Kirche Mariae Namen ein Hoffnungszeichen. „Für jeden Toten des 19. Januar entzündeten sie eine Kerze. Und sie sprachen Fürbitten“, berichtet Pfarrer Krenzer. Nicht wenige der sonntäglichen Gottesdienstbesucher in Mariä Namen haben selbst einen Migrationshintergrund, bilden die Vielfalt der Stadt ab. 

Krenzers evangelischer Kollegin Mause bleibt ein weiteres Gedenken in lebhafter Erinnerung: ein ökumenischer Gottesdienst. Daraus vor allem zwei Sätze aus der Schriftlesung aus dem Buch des alttestamentlichen Propheten Jeremia: „Sucht nach der Stadt Bestes“ und „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“. Was alle Menschen eint über Religionsgrenzen hinweg, ist das Gebet für die Verstorbenen. Pfarrer Krenzer ist überzeugt: „Die Menschen der Stadt haben gemeinsam getrauert. Das verbindet.“

 

Hintergrund: Das Gift namens Rassismus restlos verbannen 

Beim Gespräch mit Pfarrer Dirk Krenzer, Pfarrerin Heike Mause und Ricarda Sommer-Charrier im Pfarrbüro der Hanauer Stadtpfarrei Mariae Namen war kein Vertreter der Muslimischen Gemeinschaft mit dabei. Das hatte einen Grund: Die muslimischen Verantwortlichen sind derzeit besonders in der Trauerbegleitung der Angehörigen gefordert. „Das geht bis an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit“, weiß Ricarda Sommer- Charrier. 

Die Gemeinschaft der Muslime kommt hier deshalb durch Auszüge aus den Statements zu Wort, die Betroffene bei der Trauerfeier für die Opfer in Hanau am 4. März äußerten. 

„Jede Religion, ob Christentum, Judentum oder der Islam vermitteln die Barmherzigkeit und die Nächstenliebe zwischen allen Menschen. Lassen wir bitte, bitte, bitte alle gemeinsam den vielen Worten, jetzt endlich Taten folgen. ... Wir können es alle gemeinsam schaffen!“ 

Kemal Kocak, in seinem Kiosk starben vier Menschen. 

„Der Schmerz ist grenzenlos, aufgrund des Verlustes meines geliebten Bruders. Es bleibt eine unfassbare Leere, weil mein Bruder das Leben meiner ganzen Familie mit Freude, Herzlichkeit und Liebe erfüllt hat. Mein Bruder hat uns immer zum Lachen gebracht, war hilfsbereit und einfühlsam. Wenn er helfen konnte, hat er ohne Erwartung einer Gegenleistung geholfen. So hat er sein erstes Azubi-Gehalt für Menschen in Not gespendet. ... Helfen Sie, liebe Trauernde, dass wir den Hass und das Gift namens Rassismus aus unserer Gesellschaft restlos verbannen und wir alle, auch wenn wir verschiedenen Glaubensrichtungen angehören, friedlich und glücklich in unserem Land gemeinsam leben können.“ 

Ajla Kurtovic, ihr Bruder wurde getötet

„Diese Tat ändert nichts daran, wer wir sind und woran wir glauben. Das ist nicht der erste Anschlag hier in Deutschland, aber wir hoffen und beten dafür, dass das der letzte war. An dieser Stelle geht mein Mitgefühl an alle Opferfamilien dieser schrecklichen Tat und auch an alle Opferfamilien vergangener Anschlägen. Wir sind nicht alleine, wir sind stark und halten zusammen!“ 

Saida Hashemi, einer ihrer Brüder wurde getötet.