Warum sich eine Kraftwerksleiterin im Pfarreirat engagiert

Zwischen Abriss und Aufbau

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Susanne Engstler
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Foto: privat

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"Meine Freude in der Gemeinde ist größer als im Kernkraftwerk. Weil das einfach etwas Anderes ist. " Susanne Engstler an ihrem Arbeitsplatz im stillgelegten Kraftwerk Unterweser

Als stellvertretende Kraftwerksleiterin wickelt Susanne Engstler beruflich den Atommeiler Unterweser ab. Als Vorsitzende des Pfarreirats baut sie privat in ihrer Gemeinde an der Zukunft mit.

Sie denkt analytisch und handlungsorientiert, weil es in ihrem Job genau darauf ankommt: Situationen zu erfassen, Maßnahmen zu erarbeiten und Aufgaben zu verteilen. Und Aufgaben gibt es viele, wenn es bei der Abwicklung des Kernkraftwerks Unterweser um den Rückbau geht.

Susanne Engstler kann den groben Ablauf anschaulich erklären. „So ein Rückbau erfolgt von innen nach außen“, sagt sie und deutet mit den Händen die Form des Meilers an. „Zuerst kamen die Brennelemente ins Castor-Zwischenlager.“ Als Nächstes folgten die stark strahlenden Geräte, Rohrleitungen und Behälter, dann die chemische Oberflächen-Dekontamination.

2011 wurde der Meiler auf der linken Weserseite zwischen den Kleinstädten Nordenham und Brake endgültig abgeschaltet. Seither dreht sich alles um das Gewirr der Rohre und Behälter unter der im Durchmesser mehr als 50 Meter messenden Kuppel, die man immer noch von weitem über die Wiesen des Marschlands ragen sieht.

„Vieles ist schon rausgenommen worden aus der Anlage“, erklärt die stellvertretende Kraftwerksleiterin, die als promovierte Physikerin nach ihrem Studienabschluss in Münster zur Preußen-Elektra ging, dem Betreiber-Konzern des Kraftwerks. „Die Kuppel selbst kommt erst ganz zum Schluss an die Reihe“, sagt sie. In gut sieben Jahren wird es so weit sein.

Susanne Engstler ist immer wieder vor Ort, spricht mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, macht sich kundig. Gerade, wenn es um Sicherheit geht, insbesondere um Strahlenschutz. Das ist viel Verantwortung, an die sich die 63-Jährige durch ihre langen Berufsjahre längst gewöhnt hat. Anfangs mit dem Auftrag, den sicheren Betrieb des Atomkraftwerks zu gewährleisten – und seit dem Ausstieg aus der Kernenergie mit der Aufgabe, dessen sichere Abwicklung mitzuorganisieren.

Aber da ist auch noch ihre andere Seite. Wer die kennenlernen möchte, könnte Susanne Engstler zum Beispiel mehrmals in der Woche morgens um halb sieben in der St.-Bonifatius-Kirche in Varel antreffen. Wenn die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen zu dieser frühen Stunde dort Ruhe sucht, um für eine halbe Stunde Kraft zu tanken für den Tag. In kontemplativer Meditation übt sie sich dann dort.

Oder wenn Engstler als Vorsitzende mit den anderen im Vareler Pfarreirat um Lösungen und Ideen für die Zukunft der Diaspora-Gemeinde im Landkreis Friesland ringt. „Ich habe immer gerne in der Gemeinde mitgearbeitet“, sagt sie und zählt auf: als Lektorin, als Kommunionhelferin, in der Firmkatechese, im Kirchenausschuss, seit kurzem als Leiterin von Wort-Gottes-Feiern und seit gut drei Jahren im Pfarreirat, wie das Gremium hier heißt.

Anders als in ihrem Job geht es in der Gemeinde auch nicht ums Abwickeln, im Gegenteil. Nicht wie im Kernkraftwerk, als die Regierung nach der Katastrophe von Fukushima von heute auf morgen das Aus verkündete. Schon damals war die gebürtige Wilhelmshavenerin stellvertretende Leiterin der Anlage, sie kann sich noch gut erinnern.

Wie geht es weiter bei uns?

Auch an das „Tal der Tränen, durch das die Belegschaft damals musste“, wie sie den Prozess nennt. Als es galt, ausgerechnet eine der aus ihrer Sicht sichersten und effektivsten Anlagen aufzugeben. „Aber wenn so eine Entscheidung gefällt wird, dann hat man sich dem als demokratische Staatsbürgerin zu fügen“, sagt Engstler mit Überzeugung in der Stimme.

Dabei hatte sie selbst nie Zweifel an der Zuverlässigkeit ihres Kraftwerks. Vor allem, weil sie die mehrfach abgesicherten Schutzmechanismen ebenso kannte wie die „konsequent und akribisch“ durchgeführten Notfall-Übungen. Anders liege die Sache bei der Frage der Entsorgung der Brennstäbe, der Endlagerung. „Das Thema hätte man von Anfang an intensiver angehen müssen“, sagt sie nachdenklich.

Aber um Abriss gehe es in der Pfarrei eben nicht. Sondern um Neubeginn und Neuausrichtung. Wie geht es weiter bei uns? Was ist wichtig in einer Zeit, in der die personellen Möglichkeiten knapper werden? Wovon müssen wir uns möglicherweise verabschieden? Fragen, um die sich nicht nur in St. Bonifatius die Diskussionen drehen.

Die Pfarreiratsvorsitzende kann dann auch auf ihre Management-Erfahrung zurückgreifen. „Zum Beispiel, wenn wir in der Gemeinde Aufgaben für die wichtigen Anliegen neu verteilen müssen. Und zwar so, dass Menschen gerne mitarbeiten. Weil sie sich als Teil eines Teams fühlen, in dem jeder Verantwortung übernimmt.“

Was sie an der Arbeit im Pfarreirat besonders reizt? Die Vorsitzende lächelt. „Die Chance, etwas Neues aufzubauen“, sagt sie. Es sei aber wichtig, die Gemeinden dabei „mitzunehmen“. Zum Beispiel im Prozess der Bildung der Pastoralen Räume, die im Bistum Münster die Seelsorge der Gemeinden koordinieren sollen. 

Die Pfarreiratsvorsitzende ist von deren Vorteilen überzeugt. Etwa von der Möglichkeit, mehr gemeindeübergreifende Angebote machen zu können – in der Firmkatechese oder bei Ferienfreizeiten. Dabei könne ein neues Gemeinschaftsgefühl wachsen. So wie es im vergangenen Jahr beim „Katholikentag am Meer“ bereits spürbar gewesen sei. Der Pastorale Raum Wilhelmshaven hatte damals alle Gemeinden nach Schillig an den Nordseestrand eingeladen. „Und die Kirche dort war übervoll. Es war ein tolles Erlebnis“, schwärmt Engstler.

Bei ihren Worten wird ein wenig spürbar von der Unterscheidung, die sie zwischen ihrer Arbeit im Kraftwerk und der in der Gemeinde macht. „Ich kann mich zwar begeistern für die Möglichkeiten, Technik sinnvoll einzusetzen und zu nutzen“, sagt sie. „Aber meine Freude in der Gemeinde ist größer als im Kernkraftwerk. Weil das einfach etwas Anderes ist.“

Ein Thema, zwei Perspektiven

Technik und Glaube – Susanne Engstler hat diese beiden Felder bereits im Studium in Münster zusammengeführt, sogar beim Rigorosum, der damals üblichen Abschluss-Prüfung im Promotionsverfahren in Physik. Statt wie die meisten anderen Studierenden Mathematik oder eine Naturwissenschaft als drittes Prüfungsfach zu wählen, nahm sie Schöpfungstheologie – und beantragte dafür sogar eine Ausnahmegenehmigung. „Mich reizte neben nuklearer Astrophysik ein ganz anderer Blick auf das Thema“, sagt sie.

In der Frage der Sicherheit der Energieversorgung in Deutschland ist Susanne Engstler mittlerweile zuversichtlicher als früher. „Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass wir erneuerbare Energien so umfangreich nutzen können, wie es mittlerweile der Fall ist“, sagt sie. „Wenn jetzt noch Drive in die Speichertechnologie kommt, dann kann das etwas Gutes werden.“

In manchen Fragen leidet Engstler an der Kirche, zum Beispiel am Missbrauchsthema, aber auch am Umgang mit Frauen. „Ich selbst wäre wirklich gerne Diakonin geworden. Aber das verwehrt man uns“, sagt sie. Dennoch überwiegt in ihr letztlich etwas Anderes: „Ich werde meine Kritik einklagen und ich werde Missstände anklagen. Aber eines werde ich nicht: austreten. Dazu liebe ich die Kirche zu sehr.“

Michael Rottmann