Wie man zu einem realistischen Selbstbild kommt.

Zwischen Supermann und Totalversager

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„Keiner täusche sich selbst“, rät Paulus in der Lesung. Aber wie findet man ein realistisches Selbstbild? Hilft der Glaube? Oder stört er? Welchen Einflüssen unterliegen wir? Antworten von Hermann Backhaus, Priester und Psychologe.

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Bin ich gut? Bin ich schlecht? Oder irgendwie konturlos? Foto: imago/shotshop

Pfarrer Backhaus, ein Sprichwort sagt: „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.“ Hat das Sprichwort recht?

Ja, auf jeden Fall. Die Einsicht in das Selbstbild eines Menschen ändert sein Leben. Selbst, oder gerade wenn diese Einsicht schmerzhaft ist, kann sie mich auf die Spur der Besserung bringen. 

Paulus warnt: „Vor Gott ist unsere Weisheit nur Torheit.“ Spielt Gott beim Selbstbild eine Rolle?

Gott berücksichtigen viele Menschen bei ihrem Selbstbild nicht mehr. Das kann zu einem Problem werden. Denn ohne Gott kann mein Selbstbild jünger, schöner, kräftiger sein, als ich tatsächlich bin. Eher so, wie ich sein möchte. Das eifert einem Idealbild nach, das mir die öffentliche Meinung und die Massenmedien nahelegen. Vor Gott muss ich jedoch nicht alles können oder möglichst cool sein.

Das heißt, Gott tut unserem realistischen Selbstbild gut?

Ja, aber nicht im Sinne einer Hängematte oder eines Wellness-Beckens. Gott fordert von uns schon, dass wir unser Potenzial ausschöpfen. Er hat jedem von uns viele Möglichkeiten und Charismen mitgegeben, die wir nutzen sollen. Wenn ich mich als Glaubender gegenüber Gott öffne, kann ich mich auch besser gegenüber den Menschen öffnen. Und gleichzeitig gibt mir Gott Rückendeckung. Ich kann nie tiefer fallen als in die Hand Gottes. Und ich muss vor ihm nicht perfekt sein.

Sie sagen: Mehr als Gott öffnen wir uns den Massenmedien. Haben moderne Medien Gott als Geber von Idealen abgelöst?

Für mich persönlich ist es eine große Erleichterung, dass Gott mich absolut liebt, wie ich bin. Beim Fernsehen etwa ist es genau das Gegenteil – ich bekomme eine scheinbar perfekte Welt gezeichnet, so, wie ich angeblich sein soll. Ich nenne dies das „Heidi-Klum-Bild“ aus „Germany’s Next Topmodel“. Das ist nur eine Oberflächenschau, die auf mich Druck ausübt. Denn so wie die im Fernsehen Dargestellten sind die meisten von uns einfach nicht! Das kann etwa auch Essstörungen vor allem bei jungen Menschen auslösen. Ich halte dies für eine dramatische Entwicklung.

Der Dialog mit Gott verhilft mir zu einem realistischen Selbstbild, sagen Sie. Wie steht es denn mit dem, was die Kirche über mich selbst sagt?

Auch die Kirche und ihre Lehre haben natürlich Einfluss auf mein Selbstbild. An den Idealen, die Glaubensgemeinschaften leben, kann ich mich einerseits aufrichten, ich kann mich aber auch daran reiben. Dadurch präzisiere ich mein Selbstbild.

Zum Beispiel auch an der Haltung der Kirche zum Thema Homosexualität, um nur ein Beispiel zu nennen?

Beim Thema Homosexualität sehen wir die Spannung in der Weltkirche ganz deutlich. Papst Franziskus eckte bei seinem Besuch vor kurzer Zeit in Afrika mit den Äußerungen an, dass homosexuell empfindende Menschen nicht als kriminell zu betrachten sind. Das ist in einigen afrikanischen Ländern nicht selbstverständlich. Gleichzeitig gibt es in einigen Ländern, auch bei uns, Forderungen nach Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Auch unter Christinnen und Christen.

Das mit dem realistischen Selbstbild scheint also nicht so einfach zu sein …

Mein Selbstbild ist stets in einem Spannungsverhältnis zwischen meinen eigenen Idealen und der tatsächlichen Realität. Es wird dann ausgestaltet von meinen Stärken und meinen Herausforderungen, also von Dingen, die mir leichtfallen, und Dingen, die mich belasten oder mir nicht so gut gelingen. 

Das heißt, mal unterstreiche ich zu sehr meine Stärken, dann wieder zu sehr meine Schwächen? Da gibt es ja auch den Begriff des „blinden Flecks“ in unserer Psyche …

Ja. Blinde Flecken sind Eigenschaften, die ich an mir selbst nicht erkenne, die ich übersehe, deshalb das Attribut „blind“. Ich begreife nicht, dass diese von mir übersehenen Eigenschaften unter Umständen für andere Menschen ein Problem mit mir darstellen. Andererseits kann ich aber auch eigene Stärken übersehen.  

Diese blinden Flecken hat jeder Mensch?

Ja. Und ich kann sie nur auflösen, indem ich mit anderen Menschen in Kontakt trete, die mich auf diese blinden Flecken aufmerksam machen. Wenn ich ein realistisches Selbstbild erlangen will, bin ich angewiesen auf Aussagen anderer Menschen über mich. Denn meine Selbstwahrnehmung ist immer verzerrt, sie entspricht nicht der Realität.

Wer hilft mir dabei?

Wichtig sind Rückmeldungen von Menschen, denen ich vertraue. Von Freunden, Familie oder auch von Arbeitskollegen. Und von Personen, die mir etwas zu sagen haben, zum Beispiel gute Vorgesetzte. Letztlich hängt es aber entscheidend von mir selbst ab, ob ich diese Rückmeldungen über meine blinden Flecken gut annehmen kann oder nicht.

Paulus spricht mit seiner Mahnung „Keiner täusche sich selbst“ die Christen von Korinth an. Können Glaubende das mit der Selbsteinschätzung besser als andere?

Sie können zumindest leichter akzeptieren, dass sie nicht perfekt sein müssen. Weder in der Welt noch vor Gott.

Die eigene Unzulänglichkeit stiftet am Ende also Hoffnung?

Ja, so kann man es ausdrücken. Nach allem, was in unserem Leben war, dürfen wir hoffen, dass wir in Gottes Ewigkeit sein dürfen. Mit allem, was in unserem Leben gut oder weniger gut war. Das beruhigt und macht unser Leben leichter. 

Interview: Michael Maldacker

Foto: Kirche & Leben/Michael Bönte

Hermann Backhaus (51) ist Theologe
und Psychologe und berät in Münster
Menschen im Dienst der Kirche.