Kirchengeschichte im Erzbistum Berlin
„Die gute alte Zeit gab es nicht“
Foto: Walter Plümpe
Welchen Platz nahmen die Kirchen im Kaiserreich ein? Wie suchten sie der fortschreitenden Entchristlichung der Gesellschaft entgegenzusteuern? Unter welchen äußeren und inneren Spannungen litten sie? Diesen Leitfragen geht der Diözesangeschichtsvereins im Erzbistum in seinem neuen „Wichmann-Jahrbuch“ nach. Herausgeber ist wieder Michael Höhle, Vorsitzender des Vereins, Kirchengeschichtler und Pfarrer von Heilige Familie Prenzlauer Berg. Benannt ist die die Buchreihe nach Wichmann von Arnstein, der im 13. Jahrhundert das Dominikanerkloster Neuruppin gründete.
Auf 333 Seiten mit 67 Abbildungen werfen die Autoren in 15 Aufsätzen Schlaglichter auf das kirchliche Wirken von 1871 bis 1918, der Zeit des deutschen Kaiserreichs. Christoph Achtelik, seit über einem Jahrzehnt treuer Leser der Jahrbücher, die alle zwei Jahre erscheinen, meint: „Es ist wieder ein Band voll spannender Geschichten und historischer Zusammenhänge geworden.“
Katholiken stießen auf Abneigung ...
Ein Teil der Aufmerksamkeit des Werkes gilt der damaligen Diasporasituation der Katholiken. So beginnt der erste Beitrag von Michael Höhle mit einer Anekdote aus der Literatur. In Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin“ wird deutlich, wie Katholiken von der Bevölkerungsmehrheit im märkischen Raum mitunter gesehen wurden. So zürnt die Figur Adelheid, eine überzeugte Protestantin: „Der Unglaube wächst, und das Katholische wächst auch. Und das Katholische, das ist das Schlimmere. Götzendienst ist schlimmer als Unglaube.“
Es war die Jahrhundertwende, die Zeit von Kulturkampf und „Ultramontanismus“. Die preußischen Machthaber im neuen Kaiserreich verlangten von allen Staatsbürgern Gehorsam, der Vatikan dasselbe von den Gläubigen. Schon 1870 hatte das Erste Vatikanische Konzil die päpstliche Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenfragen festgelegt. Dass sich viele Katholiken neben Gott auch ihrem Heiligen Vater verpflichtet fühlten: zumindest in den Augen von Fontanes Figur Adelheid „Götzendienst“.
Michael Höhle über die große Treue gegenüber Rom und katholischer Lehre: „Nie zuvor deckte sich die offizielle kirchliche Norm in Sakramentenempfang, häuslicher Frömmigkeit, Ehe und Schule so sehr mit dem faktischen Verhalten der meisten Gläubigen wie im Zeitraum von 1850 bis 1950.“
... aber auch auf Anerkennung
Doch es gab auch Wertschätzung für die Katholiken, speziell für Katholikinnen, wie eine weitere Anekdote im Jahrbuch bezeugt: Als der Adjutant des Kronprinzen (dem späteren „99-Tage-Kaiser“ Friedrich III.) gefragt wurde, wie die bei den Kriegsverwundeten tätigen Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth aussähen, soll dieser geantwortet haben: „Auf der Straße wie Fledermäuse, am Krankenbett wie Engel.“
Als weiteres Indiz für die Anerkennung der Arbeit gerade der Ordensschwestern nennt das Jahrbuch Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“. Als die Konsulin Buddenbrook im Sterben liegt, werden die Grauen Schwestern zur Pflege empfohlen. Die Begründung: „Die Schwestern sind unschätzbar. Sie wirken mit ihrer Erfahrung und Besonnenheit so beruhigend auf die Kranken.“ Als die Patientin damit zunächst nicht einverstanden ist, folgt das Argument, dass die Grauen Schwestern „treuer, hingebender, aufopferungsfähiger sind als die Schwarzen“. Die Schwarzen, das sind die Protestantinnen.
Michael Höhle: Jede Zeit hatte ihre Nöte
Das Buch richtet sich nicht nur an Geschichtsbegeisterte. Welche Menschen und Ideen stecken hinter exemplarischen Kirchenbauten Berlins? Wo findet sich über konfessionelle Trennungen das päpstliche „Rom“ in Berlin? Warum ist Einheit und Vielfalt der Kirchen Realität und zugleich ein Problem? Warum sind Anpassung und Abschließung stets Segen und Fluch zugleich? Woran entzünden sich nötige und unnötige Konflikte? Was haben die christlichen Kirchen im Angehen schwerer sozialer Probleme geleistet? Wer sich für solche Fragen interessiert, die sich Christen auch in der Gegenwart stellen, wird fündig.
Herausgeber Michael Höhle: „Der Blick in die Geschichte macht deutlich, dass jede Zeit ihre eigenen Nöte hatte. Eine ‚gute alte Zeit‘ gab es nicht. Und manche Probleme und Spannungen schleppen sich durch die Geschichte fort.“
Wichmann-Jahrbuch, Neue Folge 17 2023/24. Verlag F. W. Cordier. ISBN 978-3-939848-90-5 (Preis: 19,90 Euro)