Erfurter Altbischof Joachim Wanke zu Veränderungen

Trost in Zeiten von Umbrüchen

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Joachim Wanke
Nachweis

Foto: imago/Karina Hessland

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Mit seinen Worten die Herzen von Menschen zu erreichen, ist eine Stärke des Erfurter Bischofs Joachim Wanke – hier bei beim Requiem für Weihbischof Hans-Reinhard Koch im April 2018. 

Jede Veränderung ist auch mit Abschiedsschmerz verbunden – auch der Wandel beim Tag des Herrn. Altbischof Joachim Wanke schickt unseren Lesern, die früherer religiöser Beheimatung nachtrauern, seinen Trostbrief.

„Das war doch damals eine gute Zeit, als ich mit meiner Familie, meinen Freunden in unserer Pfarrgemeinde ein religiöses und kirchliches Zuhause hatte! Gern denke ich an jene Jahre zurück. Mit den heutigen Veränderungen komme ich gar nicht mehr zurecht. Der zuständige Pfarrer wohnt nicht mehr vor Ort. Die heilige Messe ist nicht immer gesichert. Kontakt mit der Gemeinde habe ich nicht mehr. Gute Bekannte von früher sind verstorben. Deren Kinder sind weggezogen. Ich fühle mich als Christ einsam – wie vertrieben aus der vertrauten Heimat in eine unwirtliche Fremde!“  
So oder ähnlich höre ich manche treue Christen, vornehmlich aus der älteren Generation klagen – manchmal den Tränen nahe, manchmal verhalten und im Wissen darum, dass Lebensumstände und Verhaltensweisen sich ändern, ob wir dies wollen oder nicht. Und das betrifft eben nicht nur das gemeindliche Leben, sondern auch die eigene Familie. „Die jungen Leute sind heute so ganz anders als wir es waren! Sie kleiden sich anders, reden und verhalten sich  anders. In die Kirche gehen sie kaum noch. Ob sie noch beten, weiß ich nicht. Sie sind zwar (meist) freundlich, auch hilfsbereit und nachsichtig, etwa mit meinen unzureichenden Computer-Kenntnissen. Aber sie sind weit weg von dem, was mich geprägt, getragen und begeistert hat.“ Zur Kirchen-Trauer tritt dann die bange Sorge um Kinder und Enkel, besonders auch um ihre Beheimatung in einer christlichen Lebenspraxis.
Gibt es jenseits von oberflächlichen Ratschlägen wirklich tröstenden Zuspruch, der solchen Nöten abhelfen könnte? Wenn ich dies jetzt versuche, weiß ich um die Schwierigkeiten, solchen Erfahrungen wirklich gerecht zu werden. Noch so kluge Worte helfen meist wenig, etwa der Hinweis, dass kulturelle Umbruchzeiten auch früher oft für Kirche und Seelsorge große Probleme bereiteten. Ich habe mich selbst befragt, was mich eigentlich in diesen „aufgeregten“ und „kulturkämpferischen“ Zeiten und in der Vereinsamung, die das Alter mit sich bringt, vertrauensvoll glauben und hoffen lässt. 
Mein erster „Trost-Gedanke“: Ich schaue möglichst oft über den Horizont meines persönlichen Lebensraumes hinaus. Wir gehören als katholische Christen zu einer weltweiten Kirche, in der es viel Bewegung gibt. Es gibt Länder, wo Christen bedrängt und verfolgt werden. Es gibt aber auch Länder, wo kirchliches Leben aufblüht und wächst. Gerade in den ärmeren Regionen der Welt hat Kirche oft ein junges und vor allem frohes Gesicht. Dort sieht man, wie der Gottesglaube Hoffnung und Kraft für jetzt und morgen gibt. Ein Vorteil unserer modernen Zeit ist die Möglichkeit, leicht über die Medien davon zu erfahren. Es gibt auch in unseren Gemeinden Christen aus anderen Erdteilen, an deren Verhalten man eine lebendige Glaubenspraxis erkennen kann. Junge Christen aus unserer Region entdecken bei längeren Aufenthalten in Ortskirchen der so genannten „Dritten Welt“ oft ganz neu ihren Glauben als Kraftquell. Sie werden durch solche Erfahrungen selbst gestärkt, gleichsam „religiös erwachsen“. 

„Halten wir Ausschau nach den Früchten!“

Wir wissen nicht, wie sich die konkrete Gestalt kirchlichen Lebens hier bei uns weiter verändern wird. Unsere Kirche wird von vielen Selbstverständlichkeiten, die sich in den letzten Jahrhunderten herausgebildet hatten, Abschied nehmen müssen. Der Verweis auf Kirchengebote und das Beharren auf unhinterfragte Gepflogenheiten helfen heute nicht weiter. Das erleben wir ja auch in der säkularen Gesellschaft. Und zudem gilt es anzuerkennen: Einiges an positiven kirchlichen Veränderungen haben wir ja auch selbst erlebt, etwa im Verhältnis zu Christen aus anderen Konfessionen. 
Trösten wir uns also mit dem Wissen, dass Gott seine Kirche auf dem Weg der Geschichte auch dann führt, wenn es Veränderungen und schmerzhaften Wandel gibt. Wobei diese gläubige Gewissheit mit einer weiteren Haltung verknüpft werden muss – und das wäre mein zweiter Zuspruch, den ich gern stark mache:
Halten wir Ausschau, wo aus Veränderungen „gute Früchte“ wachsen. Gottes Geist wird manchmal gern mit unseren eigenen Wünschen, Einfällen und Illusionen verwechselt. Dagegen gibt es ein probates Hilfsmittel: Man kann Gottes Geist daran erkennen, dass er Neues und Hilfreiches wachsen lässt, also Dinge, die mir und uns gemeinsam guttun. Der Heilige Geist ist aufbauend, auch dann, wenn er manchmal zunächst Trümmer wegräumen muss, um Platz für Neues zu schaffen. Ein Beispiel: Vor über 200 Jahren wurde in der napoleonischen Zeit das meiste Kirchengut samt aller Klöster mit deren Schulen in vielen Staaten der kirchlichen Nutzung entzogen. Der Zusammenbruch der alten Reichskirche mit ihren Privilegien hinterließ ein Trümmerfeld. Danach erwuchs freilich Erstaunliches: eine neu aufblühende Kirche, geprägt von Wallfahrten und katholischem Selbstbewusstsein, von katholischen Verbänden und sozial ausgerichteten Kongregationen, die im 19. Jahrhundert schon Vorarbeit für den späteren modernen Sozialstaat leisteten. 
Der Apostel Paulus hatte ein Gespür dafür, was in konkreten Situationen Gottes Geist bewirken kann. Dieser Geist stellt unser Verhalten auf den Prüfstand. Er eröffnet „Raum nach vorn hin“. Den über ihre „Freiheit in Christus“ außer Rand und Band geratenen Neuchristen in Korinth schrieb Paulus ins Stammbuch: „Und wo sind die Früchte eurer Freiheit?“ Und dazu zählt er: lautere Gesinnung, Erkenntnis, Langmut, Güte und vor allem ungeheuchelte Liebe. Umgekehrt kann Paulus durchaus auch zur „Freiheit der Kinder Gottes“ ermuntern, etwa bei den ängstlich gewordenen Christen in Galatien, die dem Evangelium und seiner Dynamik nicht mehr trauen und wieder in alte Verhaltensmuster, die Verehrung von „Elementarmächten“ und das Praktizieren von Kalenderfrömmigkeit zurückfallen. Heute würde Paulus vermutlich ebenso argumentieren: etwa bei „enthusiastischen“ Christen, die meinen, alles sei gut, was ihnen gefällt. Wo sind eure Früchte, die Gott gefallen? Uns ängstlich um die Zukunft von Kirche und Gottesglaube bangenden Christen hierzulande würde er zurufen: Habt Mut und traut Gott etwas zu! Lebt und handelt aus der „Freiheit der Kinder Gottes“, die uns durch Christus geschenkt ist! Hängt euer Herz nicht an weltliche Absicherungen, die letztlich nicht tragen!
Und damit komme ich zu einem dritten „Trostgedanken“: Auch in der gegenwärtigen religiös-kirchlichen Krisenzeit, in der vieles zerfällt, was uns bislang trug: Nichts hindert uns, in der „Nachfolge Christi“ zu verbleiben. Ich wage sogar zu sagen: Der Mangel kann uns lehren, wie kostbar das ist, was wir jetzt manchmal schmerzlich suchen müssen: Ein Leben aus der Eucharistie, aus den Sakramenten, aus dem Hören auf die Heilige Schrift und der Mitfeier des Kirchenjahres. 
Wer vereinsamt, lernt neu einen freundlichen Besuch zu schätzen. Das Kommen der Kinder und Enkel kann zu einem Fest werden, das unseren Lebensmut neu stärkt. Die heutigen Mangelerfahrungen an gewohnten religiöser „Angeboten“ birgt in sich die Chance, das wahrhaft Wichtige in unserem Leben als Christen neu in den Blick zu bekommen. Auch jetzt,  bei aller Trauer um das „Gewesene“, können wir unser Leben mit seinen Höhen und Tiefen, auch mit seiner manchmal bitteren Einsamkeit Gott als Gabe hinhalten mit der Bitte, es für mich und andere zum Segen werden zu lassen. 

Gott geht mit durch jede Veränderung

Auch wenn ein Pfarrer (leider) nicht mehr jeden Sonntag mit der klein gewordenen Gemeinde die heilige Messe feiern kann, dürfen wir den Sonntag „heiligen“. Auch wenn die vertrauten Feste im Kirchenjahr an meinem Wohnort nicht mehr prächtig und intensiv zelebriert werden und auch der Austausch mit gleichgesinnten, im Glauben verbundenen Personen fehlt, ist es möglich, ein „geistliches Leben“ zu führen, zu beten, auf das Wort Gott zu hören und die kleinen und großen Entscheidungen so zu treffen, dass wir Gott „gefallen“. 
Ich erinnere mich: Christen, die nach Kriegsende aus katholischen Regionen in die Diaspora Mitteldeutschlands evakuiert wurden, haben zwar den schlesischen, ermländischen oder sudetendeutschen Traditionen nachgetrauert, aber viele haben sich nicht entmutigen lassen und sind durch Treue zu einem Glauben herangereift, der auch in der Vereinzelung einer fremden Umgebung belastbar war. Für einen authentischen Gottesglauben, der an Jesus Christus Maß nimmt, gibt es eigentlich keine schlechten Zeiten. Nichts, keine Mächte und Gewalten, nicht einmal die Trauer um die Beheimatung in einer überschaubaren Pfarrgemeinde mit ihren damaligen Selbstverständlichkeiten, vermag uns von Gott zu trennen. 
Ich schließe meine Trostgedanken mit dem, was der Apostel Paulus seinen kritisch-quirligen korinthischen Christen ans Herz gelegt hat. Prahlt nicht mit euren Gnadengaben und überbietet euch nicht gegenseitig! Er lockt sie auf einen anderen Weg. Es ist der Weg der Liebe, der uns mit Sicherheit Gott näherbringt. Wenn wir ihn einst schauen, wird der Glaube vergehen, wird die Hoffnung unnötig. Einzig die Liebe wird bleiben. Das „Hohe Lied der Liebe“, das Paulus anstimmt, ist für mich wie ein Lebensgeländer, an dem ich frohen Mutes der „Stunde“ entgegen gehe, in der ich „von Angesicht zu Angesicht schauen“ darf und nicht mehr glauben und hoffen muss. Manchmal bin ich froh, endlich alt zu sein.