Erfurter Ursulinenschule unterrichtete in NS-Zeit auch 23 Jüdinnen
Hunger nach Bildung und Leben
Fotos: Privat
Strahlend und warmherzig sieht Hanna Herzberg auf dem Foto aus, das die Erfurter Historikerin Andrea Wittkampf vor einigen Jahren in die Hände bekam. „Fünf Jahre, bevor diese Aufnahme entstand, hatte die ehemalige Schülerin der Ursulinenschule das KZ Mauthausen überlebt“, wusste die Mitarbeiterin des Bistumsarchivs. Dass die junge Frau keinerlei Verbitterung, sondern einfach nur Lebensfreude ausstrahlt, hat Andrea Wittkampf tief berührt.
Sie steht bis heute in E-Mail-Austausch mit Hanna Herzbergs Tochter Cathy in den USA. Ihre Erkenntnisse über die jüdischen Schülerinnen der Erfurter Ursulinen fasste Andrea Wittkampf 2019 in einem Buch zusammen. Der Titel ist ein Zitat aus einem Bericht der Schulaufsichtsbehörde von 1937: „Wie außerdem bekannt ist, gehören verschiedene Jüdinnen der Schule an“. Auch wenn das im Verlag Vopelius in Jena erschienene Buch inzwischen vergriffen ist, hält die Autorin die Erinnerung an die insgesamt 23 Jüdinnen, die an der katholischen Schule Aufnahme fanden, weiterhin lebendig – zuletzt in Vorträgen im Bildungshaus St. Ursula in Erfurt und vor dem dortigen Friedrich-Dessauer-Kreis.
Aufmerksam geworden auf die jüdischen Schülerinnen war die Mitarbeiterin des Bistumsarchivs, als sie 2018 die Schülerkarteikarten der Ursulinenschule sichtete. Zwei Jahre zuvor war das Konventarchiv im Zuge eines Klosterumbaus in das Bistumsarchiv überführt worden.
Dabei stieß Andrea Wittkampf unter anderem auf die Karteikarten von Hanna Herzberg und ihrer zwei Jahre älteren Schwester Eva. Die beiden hatten seit Juni 1935 die katholische Schule in der Thüringischen Landeshauptstadt besucht. Die Ursulinen hatten sie aufgenommen, nachdem ihnen der Unterricht an einer staatlichen Schule verwehrt wurde. Schon im Oktober des gleichen Jahres zogen sie mit der Mutter in die Niederlande weiter. Hanna erlebte bis zum Ende des Krieges eine Odyssee, die sie durch die Konzentrationslager Westerbork, Theresienstadt, Auschwitz und Mauthausen und das Außenlager Freiberg führte.
1950 gründete die Jüdin aus Erfurt in Los Angeles eine Familie, studierte Psychologie und lebte bis zu ihrem Tod 2003 in den USA. Tochter Cathy, die Andrea Wittkampf ausfindig machen konnte, bestätigt ihren ersten Eindruck des Fotos: „Ich habe meine Mutter niemals griesgrämig oder gar verbittert erlebt“, sagte sie der Historikerin am Telefon. Über ihre Erinnerungen an die Nazizeit habe die Mutter in der Familie eher selten gesprochen, wohl aus Sorge, ihre Kinder damit zu überfordern. Schriftlich hielt sie ihre Eindrücke aber fest und gab sie im vorgerückten Alter – unter ihrem Ehenamen Hanna Shay – als Autobiografie heraus. Diesen Text und die Fotos, die ihr die Tochter zur Verfügung stellte, konnte Andrea Wittkampf für ihr eigenes Buch über Hanna Herzberg und ihre Schickalsgenossinnen nutzen.
Hannas Großvater war seit 1926 Vorsitzender der Erfurter Synagogengemeinde gewesem. Er leitete das Kaufhaus „Römischer Kaiser“ am Anger, bis dies im Zuge der „Arisierung“ 1937 nicht mehr möglich war. Da ihr Vater Atheist war, erlebten Hanna und ihre Schwester den jüdischen Glauben vor allem bei ihren Großeltern. Bedeutsam für ihr Leben wurde ihr Jüdischsein so richtig aber erst, als die öffentlichen Anfeindungen gegen Juden begannen und ihr Recht auf Bildung eingeschränkt wurde.
Ursulinen im Visier der Nationalsozialisten
„Die Klosterschule war in Ordnung“ berichtet Hanna in ihrer Autobiografie. „Die meisten Nonnen waren nett und freundlich. Ich mochte besonders meine Kunstlehrerin und meine Mathematiklehrerin. Obwohl die meisten Mädchen katholisch waren, waren wir nicht die einzigen Nichtkatholiken, wodurch wir uns nicht ausgegrenzt fühlten.“
Den Klosterakten ist zu entnehmen, wie sehr die Ordensschwestern durch das Regime bedrängt wurden und wie groß der Druck war, die Schule zu schließen, obwohl das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 den katholischen Orden das Recht auf Gründung und Führung von Privatschulen ausdrücklich zugesichert hatte. Spätestens seit 1935 standen die Schwestern, besonders die Oberin Mater Bonaventura Trutz, unter Bespitzelung. In einem Gestapo-Bericht an die NSDAP-Kreisleitung heißt es im November 1935: „Die Schule besuchen Mädels aller Konfessionen, darunter zur Zeit 12 bis 15 Jüdinnen. Diese werden mit besonderer Zuvorkommenheit behandelt. Den Mädels, die es ablehnen, mit den Jüdinnen zu verkehren, wird vorgehalten, dass die ,Juden auch Menschen seien‘ Es ist vorgekommen, dass einige Mädchen wegen ihrer judenfeindlichen Haltung gerügt wurden.“
Ein vernichtendes Urteil fällten Vertreter der Schulaufsichtsbehörde nach einem Kontrollbesuch im Oktober 1937: „Die jungen Mädel, die dort in dem wichtigsten Abschnitt ihres Lebens erzogen werden sollen, werden bewusst vom Leben des Volkes, vom Leben unserer Gemeinschaft, abgeschlossen. Sie werden im absolut römischen Sinne erzogen (regelmäßiger Besuch von Frühmessen, kirchlicher Gruß, Unterricht lebensfern) und sind mit 18, 19 Jahren günstigstenfalls Betschwestern und keine Mädel, die die Aufgabe der deutschen Frau und Mutter erfüllen können … Zusammenfassend muss festgestellt werden, daß die Schule für den nationalsozialistischen Staat untragbar ist.“
Trotz der Protest- und Bittbriefe der Oberin an Hitler und andere Regierungsmitglieder wurde die Schule Ostern 1938 geschlossen. Zu dieser Zeit waren Hanna und Eva Herzberg bereits in den Niederlanden, in der Nähe des Vaters, der dort Arbeit gefunden hatte. Da sich auch dort die Lebensbedingungen für Juden immer weiter verschlechterten, musste die Familie mehrfach innerhalb des Landes umziehen. Der Vater versuchte Frau und Töchter zu überzeugen, nach Australien oder in die USA zu emigrieren. Eine Zeitlang lebten die Herzbergs in Amsterdam. Hanna besuchte dort die jüdische Schule, an der zeitgleich auch die drei Jahre jüngere Anne Frank unterrichtet wurde.
Im Mai 1943 erhielt Eva eine Vorladung, sich an einer Sammelstelle einzufinden. Damit die Restfamilie nicht auseinandergerissen würde, meldeten sich auch Hanna und ihre Mutter. Die nächsten anderthalb Jahre verbrachten sie im niederländischen Lager Westerbork und mussten dort Zwangsarbeit leisten. Auch der Vater war hier seit 1941 interniert.
Mit dem vorletzten Zug wurde die Familie nach Theresienstadt gebracht. Schon nach wenigen Tagen wurde der Vater ohne seine Familie nach Auschwitz deportiert. Im Oktober 1944 wurden auch die Mädchen mit ihrer Mutter nach Auschwitz verfrachtet und erlebten, wenn auch nur wenige Tage, die volle Grausamkeit dieses Orts. Hier wurde Eva von ihrer Mutter und Schwester getrennt.
Hanna und ihre Mutter wurden zur „Tötung durch Arbeit“ nach Freiberg in Sachsen transportiert. Bis April 1945 arbeiteten sie im Zwölf-Stunden-Schichtsystem an der Herstellung von Flugzeugteilen. Hanna schreibt dazu in ihren Erinnerungen: „Um die Zeit während der langweiligen Arbeit zu verkürzen, wiederholte ich meine griechischen und lateinischen unregelmäßigen Verben oder dachte an andere Schulfächer.“ Als die Front näher rückte, wurden fast tausend Frauen von Freiberg aus in Viehwagen abtransportiert. Die Zustände in den Zügen waren katastrophal und nur mit aller größter Anstrengung gelang es Hanna, ihre Mutter am Leben zu erhalten.
Ein wichtiger Teil der Erfurter Stadtgeschichte
Am 30. April 1945 erreichte der Transport sein Ziel, das KZ Mauthausen in Österreich. Das Lager befand sich in Auflösung. Nach fünf langen Tagen kamen die Amerikaner als Befreier. Verlassen durften die Gefangenen Mauthausen aber erst Monate später, so dass Hanna und ihre Mutter erst im Oktober wieder in den Niederlanden eintrafen und dort Eva fanden. Fast als wäre nichts gewesen, besuchte Hanna ab Oktober 1945 wieder die Schule und machte im Jahr darauf ihr Abitur. Nachdem die Mutter erfuhr, dass ihr Mann in Auschwitz ermordet worden war, wanderte sie 1947 mit ihren Töchtern in die USA aus.
Andrea Wittkampf freut sich darüber, dass Hanna Herzbergs Familiengeschichte von einer wachsenden Zahl von Erfurtern als Teil ihrer eigenen Stadtgeschichte wahrgenommen wird. Beispielsweise wurden die Autobiographie von Hanna Herzberg und die Fotos, die Cathy Shay zugesandt hatte, in dem Museums-Projekt „virtuelle Synagoge“ eingearbeitet und sind auf der Internetseite www.juedisches-leben-thueringen.de zu finden. Die heute in Erfurt lebenden Ursulinen interessieren sich lebhaft für das Wirken ihrer Vorgängerinnen. In der Edith-Stein-Schule, die nach der Wende an die Schultradition der Ursulinen anknüpfen wollte, nutzt ein Geschichtslehrer die Schülerkarteikarten in seinem Unterricht.
„In dieser Lebensgeschichte steckt noch mehr“, findet Andrea Wittkampf. Wenn sie Filmemacherin wäre, würde sie Hanna Herzbergs Leben auf die große Kinoleinwand bringen.