Europäisches Jugendtreffen von Taizé 2024 in Tallinn
Die Hoffnung von Tallinn

Fotos: Michael Burkner
Das von Freiwilligen und jungen Esten gestaltete Altarbild in der Eishalle ist mit traditionellen Motiven an Werke der estnischen Künstlerin Anu Raud angelehnt.
Donnerstag, 26. Dezember
Als ich etwas erschöpft aus dem Bus steige, hängen tiefe Wolken über Tallinn, feiner Nieselregen fällt auf die Stadt herab. Das Thermometer zeigt 5°C – viel zu viel eigentlich. Normalerweise liegt hier Ende Dezember immer Schnee, doch welcher Winter ist schon normal, in Zeiten der globalen Erderwärmung? Ich bin aber ohnehin nicht wegen des Wetters ins Baltikum gereist. Mir kommt eine Gruppe entgegen und obwohl sie ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen haben, erkenne ich die ersten Bekannten. Es sind Brüder und Freiwillige der Gemeinschaft von Taizé, jenem ökumenischen Männerorden in Frankreich, der 1942 von Roger Schutz gegründet wurde und seit Jahrzehnten mit seiner von Einfachheit, Ruhe, Austausch und Gesang geprägten Spiritualität Jugendliche und junge Erwachsene anzieht. Seit 1978 lädt die Gemeinschaft jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr junge Erwachsene zum Europäischen Jugendtreffen ein – dieses Jahr nach Tallinn. Es sind Menschen, mit denen ich im Sommer selbst als Freiwilliger zwei Monate gelebt, gearbeitet, gebetet habe. Ich bin nach Tallinn gereist, in der Hoffnung, diese Menschen wiederzusehen.
Der Ort dieses Wiedersehens heißt Kaarli Kool und ist eine Schule, in der die ersten Teilnehmer empfangen werden. Das eigentliche Treffen beginnt am 28. Dezember, freiwillige Helfer können bereits zwei Tage früher anreisen und bei den letzten Vorbereitungen unterstützen. Manche der etwa 300 jungen Menschen singen im Chor des Treffens, andere bereiten den Empfang zwei Tage später vor oder arbeiten wie ich in einem Team, das während des Treffens ansprechbar sein wird, wenn sich Probleme oder Konflikte auftun. Viele von ihnen sind ehemalige Freiwillige der Gemeinschaft, die meisten fahren jedes Jahr zu den Europäischen Jugendtreffen. So wird das Abendessen in der Schulturnhalle für uns alle zum großen Wiedersehen, zum Ort vieler warmer Umarmungen, der die Hoffnung auf schöne Tage in Gemeinschaft nährt. Es gibt Suppe aus Pappschalen und irgendwie fühlen wir uns alle auf bestimmte Weise miteinander verbunden. Auch wenn jedes Jahr mehrere Zehntausend Besucher nach Taizé fahren – ein bisschen wie ein Dorf ist die Gemeinschaft derer, die sich mit dem Ort verbunden fühlen doch immer geblieben.
Freitag, 27. Dezember
Ich teile mir mit zwei Geschwistern aus Deutschland und einem Polen ein Zimmer in einem Gemeindehaus im Stadtzentrum. Wir hatten Glück bei der Zuteilung der Unterkunft, schlafen in Betten – ein Luxus für nur wenige Teilnehmer. Denn Gastfamilien und -gemeinden für die 3500 erwarteten jungen Erwachsenen waren schwierig zu finden in einer Stadt, in der Taizé weit weg und kaum bekannt ist, in einem Land, in dem die christlichen Kirchen ohnehin eine Minderheit stellen. Gut fünf Jahrzehnte kommunistische Fremdherrschaft als Sowjetrepublik haben ihre Spuren hinterlassen, nur 30 Prozent der Esten bekennen sich heute zum christlichen Glauben, die meisten sind Lutheraner oder orthodox. Seit September 2024 hat Estland ein eigenes katholisches Bistum mit Sitz in Tallinn und etwa 6700 Gläubigen. Deutsche Großstadtpfarreien haben oft mehr Mitglieder. Auch wenn sich die kleinen christlichen Kirchen nach Leibeskräften um eine gute Unterbringung ihrer Gäste bemühten – es waren kreative Lösungen nötig, um jedem ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Schulen und Turnhallen wurden hergerichtet, 500 Menschen verbringen die Tage auf Isomatten in einer ehemaligen Sowjet-Kaserne.
Trotz der geringen Zahl an Gläubigen – die Innenstadt von Tallinn wird von ihren Kirchen geprägt. Prominent liegt die orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale auf einem Hügel, die evangelische Domkirche nur einige Schritte weiter. Diese geografische Nähe ist fast ein Sinnbild der Ökumene, die Estlands Kirchen wichtig ist, weil sie verstanden haben, dass sie nur so eine große Stimme in diesem kleinen Land sein können, um den Menschen einen Anker der Hoffnung in manchmal stürmischen Zeiten zuzuwerfen.

Samstag, 28. Dezember
Das 47. Europäische Jugendtreffen beginnt, die ruhigen Tage der Vorbereitung sind vorbei. Etwas mehr als 3000 junge Menschen erreichen Tallinn, nicht wenige nach stundenlangen Busfahrten. Etwa ein Viertel von ihnen kommt aus Polen, aber auch viele Deutsche sind unter ihnen, Gruppen aus Finnland und osteuropäischen Staaten, sogar aus der Ukraine und aus Belarus. Tallinn als Ort des Neujahrstreffens ist eine bewusste Wahl in einer Zeit, in der sich der Arm des Kremls nach Europa streckt, in der die Nato-Ostflanke plötzlich wieder in aller Munde ist und Meldungen über Sabotage an Unterseekabeln in der Ostsee ihre Runden in der Berichterstattung drehen.

Als wir am Abend zum Gebet in einem umgebauten Eisstadion zusammenkommen, alle gemeinsam auf dem Boden sitzend die meditativen Gesänge von Taizé singen und in Stille beten, wird mir deutlich, wie sehr das Treffen als Hoffnungszeichen für Verständigung und Frieden stehen kann. Das betont auch Frère Matthew, der Prior der Gemeinschaft, in seiner kurzen Ansprache im Anschluss an das Gebet. Immer wieder war er 2024 in Krisenregionen unterwegs. Einige Wochen hat er in der Ukraine gelebt, gerade kommt er aus dem Libanon, wo er die Weihnachtstage verbrachte. Überall hat er mit jungen Menschen gesprochen und darüber, wie jedes Jahr, einen Brief geschrieben. Er steht unter dem Motto „Hoffen über alle Hoffnung hinaus“ und dieses Motto begleitet das Treffen in Tallinn und alle im Jahr 2025 folgenden Begegnungen junger Menschen in Taizé. Frère Matthew betont die Bedeutung des gesungenen Gebets als Bitte für Frieden und Versöhnung und erinnert an die singende Revolution, in deren Folge Estland 1991 unabhängig wurde. „Lasst uns die Vergangenheit nicht vergessen, aber lasst uns wagen, über alle Hoffnung hinaus zu hoffen“ – so endet die Ansprache des Priors, so endet der erste Tag des Europäischen Jugendtreffens.
Sonntag, 29. Dezember
Das Vormittagsprogramm weicht dem Sonntagsgottesdienst in unserer lutherischen Gastgemeinde. Die Liturgie ist natürlich estnisch und auch wenn die Predigt auf Englisch übersetzt wird und sich die lutherische Wandlung äußerlich kaum von der der katholischen Kirche unterscheidet, sitze ich etwas ratlos neben meinen Zimmerkameraden in der Bank, versuche eher verzweifelt denn erfolgreich, dem Ablauf zu folgen. Ich konzentriere mich auf die Atmosphäre der Gemeinde und auf die Lieder, die auf Estnisch nach Melodien aus Taizé gesungen werden und damit ein bisschen zum Bild der Verbindung der Ortsgemeinde mit den internationalen Gästen werden. Die Gemeindemitglieder bringen uns seltenen Besuchern reservierte Freude entgegen, bezeichnen sich die Esten doch selbst als in sich gekehrt, manchmal verschlossen. Ihre Gastfreundschaft und Offenheit merken wir erst im zweiten Moment, wenn wir einen kurzen Blick hinter die Fassade der Menschen werfen können. Doch weil die Tallinner wissen, dass sie ihre Emotionalität manchmal gut verbergen, werden sie nicht müde zu wiederholen, wie glücklich und stolz sie sind, dass so viele junge Christen den Weg zu ihnen auf sich genommen haben.
Darüber freut sich natürlich auch Frère Matthew. Bei seiner abendlichen Ansprache betont er beinahe entschuldigend, dass er wisse, wie viele Gäste auf Matratzen in Schulen und Turnhallen übernachten müssen. Er erinnert sich an das Jugendtreffen 1985 in Barcelona, als er selbst als Teilnehmer in einer großen Schule schlief. Die Überzeugung von Taizé hat ihm das nicht geraubt, nur ein knappes Jahr später trat er in die Gemeinschaft ein.

Montag, 30. Dezember
Die Sonne strahlt erstmals vom blauen Himmel, es wirkt wie ein Hoffnungszeichen. Zeit zum Sightseeing bleibt aber nicht, das Tagesprogramm ist getaktet: Auf Frühstück und Morgengebet folgen Austauschrunden in der Gemeinde und nach einem Snack das Mittagsgebet mit einer kurzen Bibelmeditation. Auch dort geht es um Hoffnung, die „manchmal richtig Arbeit sein kann – wie eine Übung.“
Eine Hoffnung, die viele der jungen Erwachsenen teilen, ist, dass einmal ein Europäisches Jugendtreffen in ihrer Heimatstadt stattfindet. Am Abend steigt die Spannung, im Anschluss an das Gebet wird der Ort des nächsten Treffens bekannt gegeben. Die Gerüchteküche brodelt in Taizé schon lange und auffällig oft wurde im Vorfeld Französisch gehört. So überrascht es nicht jeden, als Zacharie, ein kleiner Junge aus dem Dorf Taizé, feierlich den Namen der nächsten Austragungsstadt verkündet: „Paris!“ Zum sechsten Mal wird die französische Hauptstadt Ort des Europäischen Jugendtreffens sein und es werden Erinnerungen wach an die 1990er-Jahre, als 100 000 junge Erwachsene dort zu Gast waren. Nächstes Jahr sollen es ähnlich viele werden, hofft das Organisationsteam.
Dienstag, 31. Dezember
Im Zeichen des Abschieds folgen wir ein letztes Mal dem Tagesablauf aus Gebeten und Gesprächen, kommen abends in der Eishalle zusammen, die sich schon fast ein wenig wie Heimat anfühlt, und stellen uns langsam die Frage: Was nehme ich mit nach Hause von dem, was ich in Tallinn erlebt habe? Frère Matthew hat eine Idee, wie man die Erfahrungen ein wenig weiterleben lassen kann: „Viele von euch haben in diesen Tagen junge Ukrainer kennengelernt. Bleibt in Kontakt mit ihnen! Wir werden euch nicht vergessen“, sagt er zum Abschluss seiner letzten Ansprache des Jahres.
Eine jährliche Tradition der Europäischen Jugendtreffen ist das Friedensgebet am Silvesterabend. In der Stille, im Gesang und in den Gebeten denken wir an Menschen, die unter Krieg und Gewalt leben, um die Hoffnung auf Frieden im neuen Jahr nicht zu vergessen. Dann wird es laut, Feuerwerk erfüllt den dunklen Himmel und empfängt das Jahr 2025, ehe wir in unserem Gemeindehaus zum „Fest der Nationen“ zusammenkommen. Es wird gesungen und getanzt, Musik aus Portugal und Polen, aus Deutschland, Finnland, der Ukraine und natürlich aus Estland erfüllt den Raum. So still das alte Jahr für uns endete, so laut startet das neue – so hoffnungsvoll.
Mittwoch, 1. Januar
Über Nacht hat es geschneit. „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Schnee sehe. Stell dir vor, ich wäre im Winter in Estland gewesen und hätte keinen Schnee erlebt“, erzählt mir ein Portugiese lachend. Eine Hoffnung hat sich also schon erfüllt im noch so jungen neuen Jahr und so klingen in meinem Ohr die Abschlussworte von Frère Matthew nach, während wir uns auf den Weg nach Hause machen, durch den Schnee hindurch, der die Stadt in friedliche Winterstimmung packt: „Möge der Heilige Geist, der Geist des auferstandenen Christus, uns führen, um Pilger der Hoffnung und des Friedens zu werden. Seien wir bereit, über alle Hoffnung hinaus zu hoffen!“
