Anstoß 04/2025

Fliegen lernen

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Heute ist der Tag, an dem wir unser Familienweihnachtsgeschenk einlösen. Deshalb sitzen wir in einer Zaubershow. Die beiden Magier sind recht bekannt. Gegen Ende der Show wird eine Geschichte erzählt, die mich sehr berührt.

Porträt Christina Innemann
Christina Innemann
Katholische Polizeiseelsorgerin in Mecklenburg-Vorpommern

Es geht um Träume, die man nicht aufgeben soll. So wie das Fliegen, das als Inbegriff der Leichtigkeit nun dem staunenden Publikum vorgeführt wird.

Ich sitze im Dunkeln und weine hemmungslos. Einerseits, weil ich als Seelsorgerin häufiger erlebe, dass genau diese Formel nicht für Jede und Jeden gilt: „Du musst nur fest an deine Träume glauben, dann kannst du fliegen.“ Manche Personen haben keine Kraft, Neues auszuprobieren. Einige haben solch starke Schicksalsschläge erlebt, dass sie schon stolz auf sich sind, wenn sie morgens aufstehen können. Ich vermute, dass die Ermutigungs-Geschichte der Zauberer in diesen Fällen fast zynisch wirken kann. Andererseits, weil ich davon überzeugt bin, dass das Festhalten an Träumen und die damit verbundene Ermutigung trotzdem elementar für uns Menschen ist. Was wären wir, wenn es nicht ab und an gelingen würde, Neues zu wagen? So eine Welt stelle ich mir trostlos vor.

„Die Auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.“ (Jesaja 40,31) Dieses Bibelwort verstehe ich als Zusage: Wenn ich mich Gott öffne, schenkt er mir Kraft. Das wird nicht alles Leid verschwinden lassen. Aber es verleiht uns vielleicht eine Ahnung davon, was Gottes Liebe vermag. Das wünsche ich denen, die am Boden kleben und ihre eigene Leichtigkeit vermissen. Vielleicht reicht es nicht bei jedem für ein Schweben viele Meter über dem Erdboden – aber für einen kleinen Hüpfer. Und wer eine Hand frei hat, könnte ja jemanden mitnehmen, der Unterstützung benötigt. Das wäre schön.

Christina Innemann