Anstoß 40/2023

Das Netz ist zerrissen

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In unserer Gemeindeküche wird das Mittagessen für die Essensausgabe vorbereitet, eine warme Mahlzeit für arme, bedürftige und hungrige Menschen im Kiez. Am großen Kochtopf entdecke ich Gordon.

„Hallo! Schön, dass du mithilfst!“ Gordon strahlt mich an. „Ja, ich bin spontan gekommen, bevor mir die Decke auf den Kopf fällt. Ich dachte, lieber suche ich mir eine Ablenkung.“ Gordons Freizeit ist spärlich gesät. Im Anschluss wartet der Job. Gordon verdient sein Geld in der Gastronomie: als Tellerwäscher.

Lissy Eichert
Lissy Eichert, Berlin
„Wort zum Sonntag“-Sprecherin

Der junge Mann aus Nigeria hatte mal ganz andere Träume: 2019 war er noch Student in der Ukraine. Zusammen mit einem Freund studierte er Maschinenbau. Dann kam Putins Angriffskrieg. Bomben, Militärgewalt, … – nachdem die beiden zu viel gesehen und zu viel Leid erlebt hatten, flohen sie nach Berlin. Dennoch bleibt es ein Leben mit Krieg im Kopf. Mit Bildern, die so mächtig sind, dass sie den Schlaf rauben. Die Seele wirkt immer noch so unruhig, als würde ihr ein Jäger auflauern.
Ich kann mir nicht vorstellen, was es bedeutet, mit diesen Bildern leben zu müssen. Meine Oma, die zwei Weltkriege erlebte, konnte nicht darüber sprechen. Wir lebten auf dem Land. Sie ging manchmal wortlos auf das Feld, um stundenlang Steine von diesem zu tragen, Zäune auszubessern. Alles was harte Arbeit war, schien ihr zu helfen. Aber darüber reden war für sie unmöglich.
Wenn Gordon eine Pause von seinen Erinnerungen braucht, kommt er bei unserer Gemeinde vorbei. Zu tun gibt es immer. Nicht nur mit den Händen Essen bereiten, sondern auch Futter für die Seele aufnehmen. „Unsre Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; das Netz ist zerrissen und wir sind frei“, heißt es in Psalm 124. 
Gordon ist praktizierender Christ und hat für sich entschieden, seine Seele nicht von den Schreckensbildern gefangen nehmen zu lassen. Er will seinen Lebensmut nicht verlieren. Die gute Stimmung in der Gemeindeküche ist ansteckend. Gordon kann für einen Augenblick durch die Maschen blicken. Eines Tages wird das Netz, das ihn gefangen hält, zerreißen.
So stelle ich mir die lebendige Gemeinde Jesu vor: Sie nimmt die Menschen, wie sie sind, lädt zum Mitmachen ein, baut Brücken und stärkt alle, deren Seele gefangen scheint.

Lissy Eichert