Trotz Kriegen und Krisen Karneval feiern

Karneval als (Über-)Lebenselixier

Karnevallisten bei einem Umzug, sie halten ein Schild, auf dem "Kamelle statt Raketen" steht

Foto: imago/Jochen Tack

Wie lassen sich Ausgelassenheit und Frohsinn rechtfertigen, bei all den Kriegen, Hunger und Not auf der Welt? Daniel Bertram stammt aus dem Eichsfeld. Dort leben nicht nur überdurchschnittlich viele Katholiken, auch der Karneval spielt in der Gegend eine wichtige Rolle.

Als wir im Frühjahr 2022 nach langer Pause aufgrund der Lockdowns endlich wieder Karneval feiern durften, begann der Krieg in der Ukraine; am „fetten Donnerstag“ (der Donnerstag vor Aschermittwoch), also kurz vor den traditionsreichen „Tollen Tagen“. Plötzlich brach sich eine Frage Bahn: Dürfen wir, unter diesem Umstand, am Wochenende Karneval feiern?

Ja! Das war unsere Antwort. Kurzerhand haben wir unseren Karnevalsumzug in einen Friedensumzug umgetauft und haben zum ersten Mal in der Geschichte unseres Vereins Geld gesammelt und zwar für Caritas International, zweckgebunden für die Ukraine. Wir haben, wiederum erstmals, alle Straßen des Dorfes besucht, haben an allen Häusern geklingelt und hatten nichts außer einem umgebauten Einkaufswagen als Motivwagen, spitzen Zungen, Karnevalsmusik und Spendendosen.

Frohsinn verbreiten – egal, wie die Stimmung ist

Unsere Einsicht und unser „Ja“ waren keine diskussionslosen Selbstläufer. Als die Nachricht vom Krieg in unsere Vorbereitung platzte, waren wir zunächst betroffen. Und ratlos. Dann haben wir unsere Gedanken geteilt. Kritische Stimmen gaben zu bedenken, dass es vielleicht ein Zeichen mangelnder Pietät sei. In Nachbarorten wurden Umzüge deswegen abgesagt. Aber es gab auch andere Stimmen: Das sei unsere Möglichkeit, als Karnevalisten ein Zeichen zu setzten. Ist es nicht unsere Aufgabe, Frohsinn zu verbreiten, ganz gleich, wie die Stimmung ist? Was können wir tun? Erst zum Friedensgebet in die Kirche, dann zum Umzug auf die Straße!

Im Nachhinein erkenne ich: In dem Moment, wo die positive Umdeutung stattfand – der Gedanke, nicht ohnmächtig stehen zu bleiben und die Nachrichten zu verfolgen, sondern selbst etwas tun zu können, die Chance etwas beizutragen – ja, in dem Moment schlug die Stimmung um. Nicht im Sinne einer Rechtfertigung, sondern einer Hoffnung. Nachdem wir uns selbst vergewissert hatten, sind wir auch den Umständen und anderen gegenüber selbstbewusst geworden. Dann passierte etwas, wie ich finde, Bemerkenswertes: Wir wurden ansteckend. Ansteckender als das Virus, das uns vorher zwei Jahre fesselte. Bürger meldeten sich: Was können wir tun? Wo kann ich spenden? Kommt ihr auch zu uns? Braucht ihr Hilfe? Die Presse meldete sich: Was passiert bei euch? Warum tut ihr das?

Porträt von Daniel Bertram
Daniel Bertram lebt im Eichsfeld, studierte Theologie an der Universität Erfurt und promovierte dort auch 2016 am Lehrstuhl für Moraltheologie und Ethik. Er war ehrenamtlicher Bürgermeister in Berlingerode, inzwischen arbeitet er in der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Erfurt.

Mit einem Mal waren wir Karnevalisten, die wir sonst selbstverständlich andere Institutionen und Personen auf der Bühne in die Mangel nahmen, selbst angefragt und aufgefordert, uns zu reflektieren. Warum und wofür machen wir das? Was ist unser Anliegen? Was ist unsere Botschaft? Oder anders (Karnevalismus und Pragmatismus sind, möchte ich behaupten, enge Freunde): Dürfen wir das? Warum haben wir das gemacht? Nun, um es konkret vorwegzunehmen: Uns ist (neu) bewusst geworden, dass wir den Karneval nicht „trotz“, sondern „wegen“ feiern.

Was ich damit meine? Wir Karnevalisten sind keine weltfremden Spinner, die blind für die Probleme und Konflikte dieser Welt durch das Leben gehen und einmal im Jahr feiern, als gäbe es diese nicht. Uns ist – und das finde ich noch einmal wichtiger zu betonen – auch nicht egal, was in der Welt passiert. Wir legen nicht die Ohren an und denken, wenn wir nur laut genug „Helau“ rufen, wird schon alles gut – oder uns nicht betreffen. Nein! Ganz im Gegenteil. Wir sind uns sehr wohl bewusst, was und wieviel in unserem Ort, dem Land und der Welt schief läuft; wir sezieren es sogar bisweilen auf der Bühne. Aber wir haben entschieden, dass wir damit leben (müssen). Insofern ist Karneval nicht unsere Droge, die uns berauscht oder vergessen macht, sondern unsere Bewältigungsstrategie. Es ist unsere Art, damit umzugehen.

Für mich stehen zwei Karnevalslieder stellvertretend für mein Verständnis der Narretei. Ein sehr altes, traditionsreiches und ein modernes. Das erste ist „Heile, heile Gänsje“ von Ernst Neger. Ein karnevalistisches Lied, entstanden in einer Zeit, in der Mainz nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag. Genau in dieser Situation, das muss man sich einmal vorstellen!, steht ein Mann zum Karneval auf der Bühne, der davon singt, dass alles wieder gut wird. Nicht trotz der katastrophalen Bedingungen, sondern wegen der Notwendigkeit, darauf zu reagieren. Das zweite Lied ist „Unser Stammbaum“ von den Bläck Fööss. Es handelt davon, dass wir alle, mit unterschiedlicher Herkunft und Biografie, gemeinsam im Karneval zusammenstehen. Nicht trotz dieser Unterschiede, sondern wegen ihnen ist der Karneval so bunt.

Karneval lehrt uns doch, über unsere Eitelkeiten wie Schwächen, gesellschaftliche Stellung, Macht wie Unvermögen, hinwegzusehen. Wir leugnen Unterschiede, Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten nicht: Wir erklären sie aber im Karneval für nicht ausschlaggebend für das Zusammenleben! Ist Ihnen das zu pathetisch? Zeichne ich hier ein Ideal? Ist da die Hoffnung Mutter des Gedanken?

Nichts wird besser, wenn man in Traurigkeit vereinsamt

Bitte glauben Sie nicht, ich wäre nur weit genug weg vom Leid, um es ernst zu nehmen. Als im November 2023 unser Sohn plötzlich starb, dachte ich, nie wieder fröhlich Karneval feiern zu können. Es braucht nicht die globalen Katastrophen und die Weltpolitik, um schier bodenlose Verzweiflung zu fühlen. Aber mit der Zeit hat sich die Einsicht (erneut) Bahn gebrochen, dass nichts besser wird, aber wirklich gar nichts, wenn ich in meiner Traurigkeit vereinsame. Ich habe den Karneval auch hier nicht genutzt, um mich wegzuducken. Sondern als Bewältigungsstrategie. Nicht trotz meines Leids, sondern wegen des Leids.

Der Frage, wieso Gott Böses zulässt, wird oft mit der Begründung begegnet, dass der Mensch frei ist und das heißt auch frei, Böses zu tun und anderen Leid zuzufügen. Ist es Ihnen zu gewagt, wenn ich sage, Karneval setzt auch auf die menschliche Freiheit, nämlich die, der Not und dem Leid auf der Welt mit Gemeinschaftssinn, Frohsinn und Hoffnung zu begegnen? Ich jedenfalls möchte das glauben. Was glauben Sie?

// Daniel Bertram