Wo kann man heute in einer Stadt wie Berlin dem Heiligen begegnen?
Auf der Spur der Schönheit
Foto: imago/Jürgen Ritter
Knapp 20 junge Menschen sitzen im Gemeindesaal von St. Michael in Berlin-Mitte und schauen sich Fotos modern gestalteter Kirchenräume an. Sie sprechen über die außergewöhnliche Form des Tabernakels, den flauschigen Wollteppich und die fächerartigen Holzwände einer Kirche in Slowenien. Ihr Architekt erläutert, er hätte eine Kirche „zum Berühren“ entworfen, damit zum Beispiel Sehbehinderte den Tabernakel ertasten, den weichen Teppichboden spüren können. Eine Teilnehmerin des Sommercamps ergänzt, wie Materialien und Lichtgestaltung Demenzkranken helfen können, sich an ihre „heiligen Räume“ zu
erinnern.
„Living stones“, lebendige Steine, nennt sich eine lose Gemeinschaft junger Menschen, die in fünfzig europäischen Städten aktiv sind. In Deutschland sind es München und Berlin. Sie wollen ihren Glauben durch Kunst und Architektur entdecken. „To discover the beauty of faith through the beauty of art“, sagt die Italienerin Maria Savignano in der Sommercamp-Sprache. Die Schönheit des Glaubens durch die Schönheit der Kunst entdecken, lautet das Motto von „Living Stones“.
Lernen, heilige Räume zu „lesen“
Maria Savignano ist katholisch, hat in Venedig Architektur studiert und gehört, seit sie in Berlin lebt, zur Berliner Gruppe. Wie Martin Bommer aus der evangelischen Kirchengemeinde am Weinberg in Berlin. Zusammen mit anderen aus der Gruppe hat er das Treffen organisiert. „Isomatten, Schlafsäcke beschaffen, einkaufen, wir kochen auch selber“, erzählt er, und dass sich die Gemeinschaft aus Spenden finanziert.
Im ersten Teil des achttägigen Camps haben sich die Teilnehmer bei Vorträgen und Besichtigungen mit zeitgenössischen sakralen Räumen beschäftigt. Sie waren zum Beispiel in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in der Kapelle der Versöhnung und in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum.
Dabei ging es um mehr als um moderne Architektur, betont Martin Bommer: „Wir lernen, die heiligen Räume zu ‚lesen‘, indem wir sie in ihren historischen Kontext stellen und den Einsatz von Licht, Material und Raum theologisch interpretieren beziehungsweise uns interpretieren lassen.“ In der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum zum Beispiel „hat uns Schwester Mirjam vom Karmel das Geheimnis dieses Ortes nahe gebracht. Ich war zum ersten Mal dort und erstmal sprachlos, was Architektur und Kunst da vermitteln von den immer noch sichtbaren und in Kirche auch bewusst sichtbar gemachten Wunden der deutschen Geschichte.“
Beim Besuch der Kapelle der Versöhnung in der Bernauer Straße hätten sie erfahren, wie der Bau der Mauer die evangelische Versöhnungsgemeinde teilte. Ab 1961 war ihre Kirche für die im Westteil der Stadt gelegene Gemeinde nicht mehr zugänglich, weil sie auf dem „Todesstreifen“ stand. Um freie Sicht auf den Grenzstreifen zu haben, wurde die Versöhnungskirche später gesprengt. Nach der Wiedervereinigung konnte die Gemeinde auf den Fundamenten der Versöhnungskirche die Kapelle der Versöhnung errichten, berichtet der Naturwissenschaftler Bommer. „Und zwar in Lehmbauweise, denn Mauern aus Beton wollte an diesem Ort keiner sehen.“
Den zweiten Teil des Camps bestimmten die Exerzitien auf der Straße. Es ginge den „Living Stones“ nicht nur um außergewöhnlich gestaltete sakrale Räume sondern genauso darum, „das Heilige zu finden, Kopf und Herz zusammenzubringen“, erläutert Maria Savignano. Architektur spreche alle Sinne an, man könne das Heilige eines Raumes erspüren. Bei den Straßenexerzitien möchten sie sich, inspiriert vom ersten Petrusbrief, „selbst als lebendige Steine erleben und uns in das Haus einfügen, das von Gott erbaut wird und von seinem Geist erfüllt ist.“
Gott entdecken, wo man ihn nicht vermutet
Jeder entscheide selbst, welchen Kiez er durchstreift auf der Suche nach dem Heiligen. Die Architektin nennt es ein Abenteuer, weil „ich Gott entdecken kann, wo ich ihn gar nicht vermute. Und Leute sehe, die ich sonst nicht bemerken würde.“ Wenn die Gruppe dann wieder zusammen kommt, tausche man sich aus über Heiliges in der Stadt und in einem selbst.
Aus dieser Spiritualität schöpfe zum Beispiel die Gemeinde St. Marien Liebfrauen in Kreuzberg. Freiwillige aus der Berliner Gruppe nehmen sich einen Tag im Monat oder in der Woche Zeit, um Besuchern den Sakralraum zu deuten. „Dabei nenne ich auch meinen Lieblingsort in dieser Kirche“, sagt Martin Bommer, „so, wie ich einem Gast meine Wohnung zeigen würde.“