Viele Katholiken beschäftigt das Verhältnis ihrer Kirche zur Sexualität

Sex und Kirche – kein Widerspruch

kuschelndes Paar auf der Couch

Foto: imago/Zoonar

Nicht nur Sex – jede Form von körperlicher Intimität ist wichtig für die Beziehung.

In Gesprächen ist sie oft ein Tabu – in der Bibel hingegen ausführlich beschrieben: die Sexualität. Wieso es sich lohnt, miteinander darüber zu sprechen, verrät Theresia Härtel, Theologin und Sexologin im Erzbistum Berlin. Außerdem erklärt sie, was Kirche und Bibel wirklich dazu sagen – und was eigentlich nicht.

Die schönste Sache der Welt, oder doch ein peinliches Thema zum Rotwerden? Die Sexualität des Menschen ist komplex, und während manche sich schwertun, über den Körper oder ihre Sehnsüchte zu reden, werben andere dafür, das Thema offen anzusprechen. Vielleicht nicht mit jedem, aber doch zumindest mit einer vertrauten Person: Das kann die beste Freundin, der Partner, ein Elternteil oder auch ein Sexualberater sein. Manche Menschen wenden sich auch an Seelsorger und Priester, sagt Theresia Härtel, Pastoralreferentin im Erzbistum Berlin. Das hatte sie auf die Idee gebracht, sich selbst in Sexualberatung weiterzubilden. Und wenn das Sprechen darüber schwerfällt? „Es hilft schon mal, sich zu belesen“, rät die Seelsorgerin. Wenn man dann merke, dass die eigenen Probleme und Fragen normal sind, sinke die Hürde, konkret nachzufragen.

ein Paar hält Händchen im Bett
Sinnlich statt sündhaft: Das Hohelied in der Bibel zeigt, dass die Sehnsucht nach dem anderen menschlich ist – und göttlich.

„Zu unserer Sexualität gehört erstmal alles, was mit unserem Geschlecht zu tun hat“, erklärt sie: Fortpflanzung und Lust, aber auch kulturelle Einflüsse, Rollen, die einem je nach Geschlecht zugewiesen würden, oder eben auch die Entscheidung – beispielsweise bei Priestern und Ordensleuten – die eigenen sexuellen Bedürfnisse nicht auszuleben. Dennoch seien auch sie nicht von körperlichen Erfahrungen ausgeschlossen, die die Sinne anregen. „Das ist ja gerade in katholischen Gottesdiensten so schön: durch die verschiedenen Körperhaltungen, den Weihrauch und die Musik werden viele Sinne angesprochen“, so Theresia Härtel. Körperlichkeit wirkt sich also auf viele Lebensbereiche aus. Sexualität zu erklären sei ein bisschen so, wie wenn man versuche, Gott in wenigen Worten zu beschreiben, vergleicht die Theologin.

Ob Sexualität und Liebe miteinander zusammenhängen, sei eine Frage der individuellen Einstellung, sagt Theresia Härtel. Die Ehe zum Beispiel sei früher nicht an Liebe geknüpft gewesen – der Sex aber an die Ehe. „Das war eigentlich eine ziemlich clevere Logik“, sagt sie, „die Frau und ihre Nachkommen waren durch die Institution Ehe geschützt.“ Denn so war rechtlich sichergestellt, dass der Versorger – der Ehemann und Vater – seine Familie unterstützte. In der Bibel kommt die Aussage, vor der Ehe solle man keinen Sex haben, nicht wortwörtlich vor. Trotzdem ist das miteinander schlafen, das sogenannte „Erkennen“ des Partners, in biblischen Geschichten dort verortet, wo Mann und Frau in Beziehung zusammenleben. Theresia Härtel betrachtet die Frage nach dem Zeitpunkt und der Verantwortung für den Geschlechtsverkehr als eine Gewissensentscheidung – zu der sie Christen durch ihre Taufe und den heiligen Geist befähigt sieht.

Sex in der Ehe – plötzlich schön?

Porträt Theresia Härtel
Theresia Härtel, Pastoralreferentin und Sexologin im Erzbistum Berlin.

Den Begriff der „Keuschheit“, der sich ursprünglich vom lateinischen „conscius“ – „bewusst“ – ableitet, würde die Seelsorgerin gerne ruhen lassen. Mit diesem Wort, das oft mit „sexueller Reinheit“ konnotiert sei, werde vermittelt, dass Sexualität schlecht ist. Das sei auch später in der Ehe hinderlich: „Wenn man ein Leben lang gesagt bekommt, dass Sex etwas Böses ist, aber in der Ehe soll man dann plötzlich Kinder zeugen, dann ist das Bild von Sexualität trotzdem negativ geprägt – und das funktioniert nicht.“ Dabei bezieht Theresia Härtel sich auch auf eine Studie aus den USA von 2024, die christlich geprägte Frauen nach ihrer Haltung zu Sex und ihren sexuellen Erfahrungen befragte. Frauen, die in dem Glauben aufgewachsen waren, dass Sex unrein sei, gaben dort häufiger an, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr zu haben. „Das liegt daran, dass sich die Vagina zusammenzieht – eigentlich ist das eine Schutzfunktion, um den Körper vor ungewolltem Eindringen zu schützen“, weiß Theresia Härtel aus ihrem Studium der Sexologie. Wenn dadurch jedoch Schmerzen beim Verkehr entstehen oder dieser gar nicht möglich ist, spricht man von einer sexuellen Funktionsstörung namens Vaginismus. Eine körperorientierte Sexualberatung kann dabei helfen, so die Seelsorgerin – der gut gemeinte Ratschlag, den Sex nach der Hochzeit doch einfach zu genießen, hingegen nicht.

Sich nach dem anderen sehnen

Eigentlich werde in der Bibel aber ein positives Bild von Sexualität verbreitet. „Im Hohelied zum Beispiel wird sie als etwas Schönes und Schützenswertes dargestellt“, sagt Theresia Härtel. Und tatsächlich: „Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich“, ist noch einer der weniger sinnlichen Verse dieses Liedes, in dem die Sehnsucht zwischen Mann und Frau besungen wird. Das Hohelied gilt als Darstellung der Liebe zwischen zwei Eheleuten, aber auch als bildhafte Darstellung der Liebe Gottes zu den Menschen. „Es beinhaltet viele sexuelle Beschreibungen – die werden nur im Sonntagsgottesdienst nicht vorgelesen“, erklärt Theresia Härtel.

Mit dem Partner zu schlafen und ihn zu begehren, bedeute, sich dem anderen zu schenken, sagte auch Papst Johannes Paul II. in seinen Katechesen zur „Theologie des Leibes“. Er habe die Sexualität zwischen Mann und Frau ganzheitlich betrachtet: nicht als Verbot oder allein dazu da, um sich fortzupflanzen, sondern als Geben und Nehmen aus Liebe. Er bekräftige in seinen – auf das katholische Ehebild konzentrierten – Auslegungen, dass ein Mensch auf einen anderen Menschen hin geschaffen ist, so die Theologin. Sich nach dem anderen zu sehnen, gehörte für ihn zum Menschsein dazu. „Der Leib kann das Unsichtbare sichtbar machen.“ So beschrieb der Papst, dass sich die emotionale Verbindung zwischen zwei Personen auch durch die körperliche Liebe ausdrückt. Dass Eheleute – auch beim Sex – das Wohl des Partners im Blick behalten sollen, ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sogar im Kirchenrecht (Canon 1055) festgeschrieben.

altes Paar umarmt sich
Entwickeln sich mit: Die eigenen sexuellen Bedürfnisse.
Foto: shutterstock/CameraCraft

Selbst Verantwortung übernehmen

Woher aber stammt das schambehaftete Bild, das der Sexualität oft anhaftet? Ein Blick in das Buch Levitikus bietet Antworten: Ein ganzer Katalog an Regeln, wie man sich nach dem Geschlechtsakt zu verhalten habe und mit wem man nicht schlafen dürfe, liegt hier vor. Das Wort „unrein“ wiederholt sich immer wieder. „In der Bibel finden wir außerdem Texte, die kritisieren, wie das Wissen über Sex in der Antike weitergegeben wurde“, erklärt Theresia Härtel, „Nämlich, indem ältere Männer es den Jungen beibrachten – und das ganz konkret im Akt.“ Paulus benenne das in seinen Briefen im Neuen Testament. „Und das ist auch richtig so, heute würden wir das als Missbrauch an Kindern ahnden“, sagt die Theologin. „Diese alten biblischen Traditionen und Aussagen prägen das Bild der Kirche von Sexualität bis heute weiter – teilweise mit einer fast schon gewalthaften Zwangskultur, in der betont wird, dass nur ein einziger Weg richtig sei.“ Dabei sei ihr heute ein anderer Ansatz wichtig, sagt Theresia Härtel: „Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird das eigene Gewissen als göttlicher Ankerpunkt beschrieben.“ Das bedeute eben auch, dass Menschen Entscheidungen über ihre Sexualität selbst treffen könnten – allerdings gut informiert und nicht aus einer Laune heraus, betont sie. Sie sollten sich bewusst sein, dass sie für die Person, mit der sie Sex haben wollen, mit verantwortlich sind.

In ihrer Arbeit als Sexualberaterin erlebt sie außerdem, dass Eltern ihren Kindern ungewollt Scham vermitteln, was sich auf die spätere Sexualität auswirken könne. Wenn sie sehen, wie ihre Kinder den eigenen Körper erkunden, und sie dann zum Händewaschen schicken, stecke da keine böse Absicht dahinter, so Theresia Härtel. Dennoch könne das bei den Kindern das Gefühl hervorrufen, dass die eigene Sexualität schmutzig sei, der eigene Körper etwas, wofür man sich schämen muss. Ähnlich sei es auch mit Predigten über Selbstbefriedigung oder mit dem Beichtspiegel, in dem Gläubige gefragt werden, ob sie Pornographie anschauen würden. „Ich will gar nicht sagen, dass man das nicht beichten sollte, wenn es einen belastet“, sagt sie, „aber das Spektrum von Pornos ist sehr groß und es gibt sicherlich Inhalte, die moralisch mehr, weniger oder vielleicht auch gar nicht verwerflich sind.“ Eine sehr alte Frau, berichtet Theresia Härtel, habe ihr mal erzählt, dass sie als Kind die Angst hatte, ihr Bruder könne in die Hölle kommen, wenn er sich selbst befriedigt. „Dabei gibt es inzwischen erste Texte, in denen theologisch argumentiert wird, dass Selbstbefriedigung erlaubt ist, wenn der übertriebene Sexualdrang des Ehemannes die Ehefrau unter Druck setzt. Als Sexologin würde ich sogar sagen, dass die Selbstbefriedigung ein wichtiger Lernraum ist: man könnte vielen sexuellen Problemen in einer Beziehung vorbeugen, wenn man sozusagen übt.“

Über die eigenen Wünsche zu sprechen, hilft

Nicht selten entstünden Beziehungsprobleme auch dadurch, dass die Partner die Sexualität vernachlässigen, sagt Theresia Härtel. Als Sexualberaterin habe sie gelernt, dass eine Beziehung auf zwei Säulen steht: Liebe und Sex. „Das meint nicht nur den direkten Geschlechtsverkehr“, lenkt sie ein, „sondern jede Form von körperlicher Intimität.“ Eine Weile könne auch nur eine der beiden Säulen die Beziehung aufrechterhalten, doch um tragfähig zu bleiben, brauche es beide. Die eigene Sexualität sei ein Thema, über das die Partner laut Theresia Härtel auch immer wieder neu sprechen müssen, da sie sich ein Leben lang weiterentwickle. Wenn sich beispielsweise nach einer Schwangerschaft oder in den Wechseljahren die Lust verändere, müsse man gemeinsam neue Wege finden. Als Seelsorgerin wünscht sie sich, dass auch in Ehevorbereitungskursen darüber gesprochen wird – und die Eheleute, gestärkt durch den Heiligen Geist, Verantwortung übernehmen. Die Seelsorger können dabei begleiten und unterstützen. „Manche Menschen wenden sich bei sexuellen Problemen auch hilfesuchend an einen Priester“, berichtet die Seelsorgerin. Dessen Aufgabe sieht sie nicht darin, die passende Antwort parat zu haben; Vielmehr hofft sie, dass Priester diese Personen an die richtigen Stellen weiterverweisen können.

Detailaufnahme einer katholischen Hochzeit
Bestenfalls sollten Seelsorger schon im Ehevorbereitungskurs vermitteln, dass die Partner in ihrer Beziehung miteinander über ihre Sexualität sprechen.
Foto: imago/Depositphotos

„Wir sollen ja so leben, wie Jesus es uns als Vorbild gezeigt hat“, fasst Theresia Härtel zusammen, wie sie auf Kirche und Sexualität blickt, „und die anderen wirklich so annehmen, wie sie geschaffen sind.“ Deshalb wünscht sie sich, dass Menschen lernen, ihre eigenen Schamgrenzen zu hinterfragen, sich mit ihrem Wunsch nach Sexualität auseinanderzusetzen – und mit den Wünschen des Partners verantwortungsvoll umzugehen. „Und wenn man erstmal drüber redet, werden Hürden abgebaut“, sagt sie, „und dann wird ganz vieles leichter.“

Johanna Marin

Zur Sache

Sich mit der eigenen Sexualität auszukennen und darüber zu sprechen, tut gut – einem selbst und der Beziehung zum Partner. Bei Problemen helfen ausgebildete Sexualberater. Im Telefonbuch und online können Sie Berater in Ihrer Nähe finden
Lesestoff zum Thema:
Sexuelle Bildung aus christlicher Perspektive – Holger Dörnemann und Stephan Leimgruber; Bonifatiusverlag; ISBN 978-3-89710-918-6; 34 Euro
Liebespraxis – eine Sexologin erzählt – Ann-Marlene Henning; Rowohlt Verlag; ISBN 978-3-499-63318-8; 18 Euro
Klappt’s? – Vom Leistungssex zum Liebesspiel – ein Übungsbuch für Männer – Michael Sztenc; S. Hirzel Verlag; ISBN 978-3-7776-2854-7; 22 Euro