Nikolaustag in der Berliner Sankt Hedwigs-Kathedrale
Hör zu, was der andere wirklich braucht!
Foto: Johanna Marin
Eine bunt geschminkte Frau mit Dreadlocks sitzt Kaugummi kauend in der Sankt Hedwigs-Kathedrale von Berlin. Ein paar Bänke weiter eine Besucherin mit Fingernägeln, die so lang sind, dass sie sich in mehreren Windungen um sich selbst drehen. Dazwischen eine Dame mit blonden Strähnen in einem teuren Mantel und ein Herr im Anzug. Einige Rentnerinnen haben es sich in der ersten Reihe bequem gemacht und ihre Rollatoren vor sich geparkt.
Kurz vor der Neueröffnung der Berliner Kathedrale, die laut Erzbischof Heiner Koch ein Ort für alle sein soll, fand im November der von Papst Franziskus ausgerufene „Welttag der Armen“ statt. Anlass genug, eben diese aktiv in die Kathedrale einzuladen, fanden Diakon und Obdachlosenseelsorger Wolfgang Willsch und Caritasvorstand Ulrike Kostka. Zum Gedenktag des heiligen Nikolaus veranstalteten sie deshalb gemeinsam mit dem Erzbischof einen Gottesdienst mit anschließender Mahlzeit für alle Caritas-Mitarbeiter, Ehrenamtlichen, Besucher und Klienten. Die Einladung richtete sich insbesondere an diejenigen, die unter Armut oder Einsamkeit leiden.
Um Menschen, die in sozialer Not sind, die Türen zur Kirche offen zu halten, brauche es die gelebte Praxis, sagt Bernadette Feind-Wahlicht. Sie koordiniert den Fachbereich „Caritas im pastoralen Raum“. Kirche und Caritas müssen Anlässe schaffen, zu denen konkret eingeladen wird. Ein normaler Gottesdienst reiche da mitunter nicht aus: „Es braucht gute, sensible Aktionen. Man muss im Blick haben, wer kommt und welche Geschichten er mitbringt“, sagt sie. Für manche sei eine Andacht genau die richtige Anlaufstelle, andere würden sich bei einem Konzert wohler fühlen oder sich über ein gemeinsames Essen freuen.
Der Gottesdienst zu Nikolaus wurde bewusst schlicht gehalten, erzählt Ulrike Kostka, da auch viele kamen, die nicht religiös sind. Einige von ihnen haben womöglich nie zuvor einen Fuß in eine Kirche gesetzt, vermutet sie. Wieso anlässlich des „Welttags der Armen“ nicht nur die Bedürftigen eingeladen wurden? „Viele Klienten der Caritas kennen Kirche nicht. Da hilft es dann, die Mitarbeiter mit einzuladen. Die kennen sie“, sagt Wolfgang Willsch. Das schaffe einen Moment der Begegnung und das Gefühl „Wir sind zusammen hier“.
Nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe
Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit ist auch wichtig, wenn Hilfe auf Augenhöhe und nicht von oben herab erfolgen soll, bestätigt Ulrike Kostka. Statt einer Armenspeisung schlägt sie beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten mit Klienten und Mitarbeitern vor, wie es bei der Suppenküche und Kältehilfe der Fall sei. Bernadette Feind-Wahlicht betont außerdem, dass auch ehrenamtliche Helfer gut angeleitet werden sollten, damit ihr Bemühen auf ihr Gegenüber nicht erdrückend wirke. „Die meisten Ehrenamtlichen machen das nicht mit Absicht“, erklärt sie, „sie wissen nicht, dass ein sehr überfürsorgliches Verhalten für den Bedürftigen auch zu viel sein kann“. Deshalb sei eine gute Anleitung wichtig. Den Klienten und Gästen der Caritas wünscht sie, dass Menschen ihnen aufrichtig zuhören, um zu erfahren, was sie wirklich brauchen und wollen.
Doch was sagen die „Bedürftigen“ selbst zu ihrer Situation? Rosi, Angel und Kai sind obdachlos. Ihre Nachnamen möchten sie nicht nennen. Dafür verraten sie, dass sie den Gottesdienst genossen haben: „Er war schön interaktiv“, freut sich Angel, die findet, dass die neue Kathedrale wie ein Raumschiff aussehe. Kai, der nicht an Jesus glaubt, hat vor allem der Weihrauch gefallen. „Wir haben nicht nur den Seh-Sinn, sondern so viele verschiedene. Das macht die Sache lebendiger.“ Beide wünschen sich für Obdachlose eine bessere psychologische Betreuung, die ganz gezielt auf den einzelnen Menschen abgestimmt sei. Angel schlägt Meditationskurse vor, die gegen Aggressionen helfen könnten. Auch Kai, der viel fotografiert und sich damit eine Karriere aufbauen möchte, spricht Aggressionen an. In den langen Warteschlangen der Hilfsstellen eskaliere die Stimmung oft. Da müssten die Abläufe besser koordiniert werden, um zum Beispiel Wasserflaschen im Sommer schneller verteilen zu können.
Hilfe von anderen anzunehmen, fällt ihnen nicht immer leicht. „Das ist nicht so bezaubernd“, kommentiert Angel, die bemängelt, dass die Angebote oft nicht genau auf die Bedürfnisse der Person angepasst seien. Rosi berät inzwischen andere Frauen in einer Unterkunft für Menschen ohne Obdach. Dabei ist sie weiterhin selbst obdachlos. Man muss auf sich selbst achten, erzählt auch Kai. Ihn ärgert, dass das gemeinsame Essen nach dem Gottesdienst in einem engen, überfüllten Vorraum stattfand. Man hätte sich zu leicht anrempeln und Suppe oder Kaffee über den Mantel kippen können. „Jeder Mensch, der obdachlos ist, muss darauf aufpassen“, erklärt Kai, „weil er nicht im Anschluss nach Hause gehen und die Waschmaschine benutzen kann“.
Seelsorger, Sozialarbeiterinnen und Obdachlose sind sich einig: Um wirklich zu helfen, muss der einzelne Mensch gefragt werden, was er braucht. „Wissen Sie, wie viel Schokolade Obdachlose in der Weihnachtszeit geschenkt bekommen?“, fragt Bernadette Feind-Wahlicht. „Gucken Sie doch stattdessen lieber, ob Sie noch eine Mandarine im Rucksack haben. Die hilft dann wirklich.“ Und Wolfgang Willsch wünscht seinen Klienten zu Weihnachten vor allem, dass die Aufmerksamkeit, die sie zu dieser Jahreszeit bekommen, auch übers Jahr hinweg anhalte. „Wir dürfen bei all den großen Krisen in der Welt den Menschen nebenan nicht vergessen!“