Was steht drin in der Missbrauchstudie?

Anfang Oktober kommt der Rest

Ein Mann sitzt mit dem Rücken zur Kamera in einem Raum und schaut zum Fenster hinaus

Foto: kna

Noch ist unklar, was im zweiten Teil der vom Bistum Osnabrück beauftragten Studie zum sexuellen Missbrauch steht. Foto: kna

Im September 2022 stellten Wissenschaftler dem Bistum Osnabrück ein schlechtes Zeugnis im Umgang mit dem sexuellen Missbrauch aus. Anfang Oktober wird nun der zweite Teil der Studie veröffentlicht. Darin geht vor allem um das Umfeld, in dem die Taten geschahen.

Der Brief ist drei Seiten lang. Handgeschrieben mit einem Kugelschreiber. Der Autor versucht eine Entschuldigung zu formulieren. Doch das gelingt ihm nicht. Echte Reue klingt anders. Stattdessen Rechtfertigungen: Vor lauter eigenen Problemen habe er nicht bemerkt, dass der Altersunterschied zwischen ihm und der Jugendlichen viel zu groß war. Die Jugendliche ist heute 53 Jahre alt und wirft dem Briefeschreiber sexuelle Übergriffe vor. Als diese anfingen, sei sie 13 Jahre alt gewesen, er mehr als doppelt so alt. Beide waren aktiv in einer dörflichen Pfarrgemeinde im Emsland. Er als Chorleiter, im Zeltlager und der Jugendarbeit, später wurde er zum Diakon geweiht. Über mehrere Jahre habe der Mann sexuelle Gewalt verübt, ihr nachgestellt, sie unter Druck gesetzt. 

Den Brief des Täters übergeben

So wird es ausführlich im ersten Bericht der Universität Osnabrück zum sexuellen Missbrauch im Bistum Osnabrück geschildert. Auch im zweiten Bericht könnte er eine Rolle spielen. Denn die Frau hat sich als Betroffene für Interviews mit den Forschern zur Verfügung gestellt. Dabei hat sie den Forschern auch den Brief „ihres Täters“ übergeben. 

Zweimal saß sie mit den Wissenschaftlern zusammen. Über jeweils rund zwei Stunden erzählte sie – von den Taten Ende der 1980er Jahre, von den psychischen Folgen und von ihren Kontakten und Auseinandersetzungen mit dem Bistum für die Aufarbeitung der Taten. Anfangs war sie etwas erschrocken, wie nüchtern und sachlich die zwei Wissenschaftler das Gespräch führten. Am Ende empfand sie aber die „Atmosphäre als durchaus herzlich und empathisch“. Nie hätten die Wissenschaftler sie gedrängt. Stattdessen habe sie sich die Zeit nehmen können, die sie brauchte, um zu erzählen.

Nüchtern und sachlich. Das passt zu Jürgen Schmiesing. Er lässt sich nicht aus seiner Rolle als beobachtender Wissenschaftler locken. Der promovierte Historiker koordiniert das Studienteam aus Historikern und Juristen. Im Herbst 2022 hatten die Forscher in ihrem Zwischenbericht vor allem Schuld und Verantwortung der Bistumsleitungen seit 1945 unter die Lupe genommen. Auch dem damaligen Bischof Franz-Josef Bode warfen sie Pflichtverletzungen vor. Die Diskussionen darüber und der Vertrauensverlust in der Mitarbeiterschaft gehörten zu den Gründen, warum Bode ein halbes Jahr später sein Amt aufgab. Ein richtiger Schritt? Schmiesing hält sich bedeckt: „Wir haben zur Kenntnis genommen, dass es zu erregten Diskussionen gekommen ist.“

Die Forscher wollen Muster herausarbeiten

Voraussichtlich Anfang Oktober soll nun der zweite und abschließende Teil der Studie veröffentlicht werden. Darin geht es stärker um das Umfeld der Taten und Betroffenen. Die Forscher wollen Muster herausarbeiten: In welchem Kontext kommt es zu Missbrauchs­taten – im Rahmen der Jugendarbeit oder Seelsorge, im Ferienlager oder beim Familienbesuch? In welchen Typen von Gemeinden passieren Taten? Eher in der Dias­pora oder in katholischen Kerngebieten, im Dorf oder in der Stadt? Wie sprechen Betroffene und andere über die Taten? Wenn sexuelle Übergriffe etwa als „Liebesbeziehung“ oder als „unkluges Verhalten“ betitelt werden, kann das eine „verharmlosende Tarnsprache“ sein, sagt Schmiesing. Die Forscher interessiert, in welchen Fällen so gesprochen und wie lange diese Fassade von wem aufrechterhalten wird. Eine zentrale Quelle für diesen Teil der Studie sind Interviews mit Betroffenen, Angehörigen und Zeugen. Dem Aufruf, sich zu melden, sei eine „sehr ordentliche zweistellige Zahl“ gefolgt. Täter oder Beschuldigte waren nicht darunter.

„Für den Abschlussbericht haben viele Betroffene berichtet, was sie erleben mussten. Das erfordert jede Menge Mut und starken Willen. Es ist an der Zeit, den Betroffenen zuzuhören und ihre Berichte ernst zu nehmen“, schreiben Katharina Kracht, Karl Haucke, Max Ciolek – die Betroffenenvertreter im Beirat der Studie – in einer Stellungnahme. „Wir können davon lernen, damit wir Kinder und Jugendliche in Zukunft besser schützen können.“

Detaillierte Fälle werden nicht geschildert

Anders als im Zwischenbericht wird der neue Bericht keine detaillierten Fälle schildern. Diese umfassende Darstellung hatte dazu geführt, dass trotz gegenteiliger Bemühungen Orte und Personen erkannt werden konnten. „Für die Suche nach Mustern sind solche Einzeldarstellungen nicht zielführend“, sagt Schmiesing. Wohl werden Einzelheiten aus konkreten Fällen angeführt, um einzelne Thesen zu belegen. Die Forscher erwarten, dass ihre Studie weitere Erkenntnisse zu systemischen Ursachen von sexuellem Missbrauch bringen, in der Kirche und der Gesellschaft. So wollen sie zu einer nachvollziehbaren Erklärung kommen, wie es zu diesen Verbrechen kommt „und warum sie lange Zeit im Dunkeln bleiben“, sagt Schmiesing.

Nach dem Abschlussbericht werden vermutlich noch kleinere Veröffentlichungen über einzelne Aspekte folgen. Dennoch: Das große Forschungsprojekt der Universität ist damit abgeschlossen. Für die Betroffenen wird es einen Abschluss wohl nie geben: Die heute 53-Jährige wird ihr Leben lang mit dem Erlebten kämpfen. Bis heute wirkt es auf ihre eigene Familie. Im Dorf, in dem noch ihre Eltern leben, halten manche die Wertung der Taten als sexuelle Gewalt für Einbildung, Übertreibung oder Fehlinterpretation. Sie erzählt von Briefen, die sie bekommt und in denen sie aufgefordert wird, Ruhe zu geben und an die Kinder des Täters zu denken, die im Dorf leben müssten. „Und was ist mit meinen Kindern?“, fragt sie. Sie hofft, dass durch die Studie weitere Betroffene ermutigt werden, sich zu melden. Und dass den sogenannten „Bystandern“, also vermeintlich unbeteiligten Zuschauern, ihr Verhalten vor Augen geführt wird und „jetzt endlich Leute erzählen, was sie damals mitbekommen haben.“

Ulrich Waschki