Ankommen in einem fremden Land

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Die Lehrer Jörg Nintemann und Raban Cramer haben sich heute für eine Tischrunde entschieden.
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Foto: Marco Heinen

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Man muss nicht immer in Reih und Glied sitzen. Die Lehrer Jörg Nintemann und Raban Cramer haben sich heute für eine Tischrunde entschieden. 

Es ist eine Herbergssuche unserer Tage. Jugendliche, die aus fernen Ländern kommen, brauchen Orientierung. Die Katholische Schule Harburg hat sich das zur Aufgabe gemacht. In der Internationalen Vorbereitungsklasse werden Schüler auf den regulären Schulunterricht vorbereitet. Die Sprache ist nicht das einzige, was dort vermittelt wird.

Schloss Neuschwanstein im Herbstwald. Zusammengesetzt aus Tausenden Puz­zleteilen, so liegt es auf einem Pult im Raum der „Internationalen Vorbereitungsklasse“ der Katholischen Schule Harburg. Im Schrank stapeln sich die GEO-Puzzle-Kisten, ausgedruckte Flaggen hängen an der Wand und eine ganze Reihe Weltkarten. Der Raum ist eine Art Mischung aus Klassenzimmer und Jugendraum. Zwei große Tafeln gibt es, einen Gemeinschaftstisch und drei weitere Tischreihen. Heute ist die Klasse klein. Sechs Schüler, zwei Lehrer – die haben am Gemeinschaftstisch Platz. Neu­schwanstein, das Bilderbuch-Deutschland, wird erst mal beiseite geschoben. Hamburg-Harburg ist in etwa das Gegenteil von Neuschwanstein, eine Industriestadt südlich der Elbe, die seit 1937 zu Hamburg gehört. 

Eine Schulklasse, in der alle Kinder die gleiche Hautfarbe und Muttersprache haben, gibt es in Harburg gar nicht. Aber die Vorbereitungsklasse ist noch einmal etwas anderes. Hier sollen Jugendliche, die neu in Deutschland sind, auf den Regelunterricht vorbereitet werden – vor allem sprachlich. Ein Jahr Zeit haben sie dafür. 

Temesgen kommt aus Eritrea. Pejman aus Afghanistan, Muhamed Ali aus dem Iran. Abdul Malik aus Tschetschenien. Die Geschwister Adres und Damaris aus Peru. 

Nur Anastasia aus der Ukraine lebt länger als ein Jahr in Deutschland. Trotzdem spricht sie am wenigsten Deutsch. Sie spricht überhaupt nicht. Man könnte denken, sie sperre sich gegen den Unterricht. Aber das stimmt nicht. Anastasia ist diejenige, die noch nie gefehlt hat. Jeden Morgen malt sie eine Katze auf die Tafel. Die Tafel ist voll von Katzen. „Vielleicht braucht sie einfach Zeit“, sagt Jörg Nintemann, einer der beiden Lehrer. Was die 14- und 15-Jährigen auf ihrem Weg nach Deutschland erlebt haben, welche „Päckchen“ sie in der Seele mitschleppen, das wissen die Lehrer Raban Cramer und Jörg Nintemann nicht. Wer sind diese elf Menschen eigentlich? Nur langsam wird das deutlich, in dem Tempo, in dem die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und das Vertrauen wachsen. 

Irgendwann sind sie alle in einer „Erstaufnahme“ in Hamburg gelandet, dann in einer Unterbringung im Raum Harburg. Oft, so berichten die Lehrer, fehlen Einzelne, weil sie bei einer Behörde ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen müssen. Verlegungen sind häufig. Temesgen wohnt seit Monaten in Hamburg-Billstedt, am anderen Ende der Stadt. Auch dort gibt es Schulen mit Vorbereitungsklassen. Aber der Eritreer fährt jeden Tag eine Stunde lang mit U- und S-Bahn in die Katholische Schule Harburg. „Viele bleiben auch bei einem Wohnortwechsel in unserer Schule, weil sie sich hier wohl fühlen“, sagt Schulleiterin Katrin Hoppmann. „Sie brauchen ja einen Bezugspunkt. Für sie ging es immer nur von einem Ort zum anderen. Die Schule, Lehrer, die anderen Jugendlichen sind das einzig Beständige, das sie haben.“ 

» O tschis na hab tschipka (Aus Fehlern lernt man). «

ABDUL MALIK AUS TSCHETSCHENIEN

Den Stress sieht man Temesgen, Pejman, Abdul Malik und den anderen nicht an. Nur, dass schon in der dritten Stunde ein Kopf auf der Tischplatte liegt; und einer ist in der Pause auf dem Sofa eingeschlafen. Früh morgens, wenn andere Kinder heimlich auf Youtube „Paluten“ oder „Bibis Beauty Palace“ gucken, hat Pejman den Kanal „Deutsch lernen“ auf dem Handy. 

Eigentlich gilt in der Katholischen Schule Harburg die Regel: Handy aus! In der Vorbereitungsklasse sieht man das etwas lockerer. „Für uns ist das Handy oft lebenswichtig“, sagt Jörg Nintemann. Es ist wichtig, um Sätze in sechs fremden Sprachen zu übersetzen. „Manchmal merkt man, dass sie Heimweh haben.“ Es kommt vor, dass im Unterricht jemand telefoniert. Aber die Lehrer wissen: Er spricht mit der Mutter, die 3000 Kilometer entfernt wohnt. 

Es ist die dritte Stunde. In der zweiten hat die Klasse das Thema „Mein Berufswunsch“ behandelt. Inzwischen sind fast alle in der Lage, in deutscher Sprache darüber zu sprechen. Muhamed Ali aus dem Iran will Programmierer werden. Ein guter, sicherer Job. Aber auch mit Stress verbunden. Temesgen aus Eritrea sagt: „Ich möchte Mechaniker werden. Da verdient man viel Geld.“ Auf den Gesichtern der Lehrer erscheint erst ein Fragezeichen. Aber sie stimmen zu. Mechaniker ist ein guter Beruf, von dem man leben kann. Viel Geld ist relativ. 

Anastasia, die Schweigende, gibt als Berufswunsch „Schauspielerin“ an. Interessant! Auch als Malerin könnte sie sich sehen. Sie malt nicht nur Katzen auf Tafeln. 

Pejman aus Afghanistan will Polizist werden. Allgemeine Zustimmung. Pejman ist ruhig, zielstrebig, er ist der Klassensprecher. Sein Wunsch kommt nicht von ungefähr, so verraten die Lehrer später. Seine Geschwister, seine Cousins und Cousinen haben schon beruflich Fuß gefasst in Deutschland. Sie alle sehen ihre Zukunft in Deutschland. „Sie wissen: Nur mit sicherem Einkommen haben sie die Chance, ihre Eltern nach Deutschland zu holen.“ 

Deutschland, das bedeutet aber auch eine andere Kultur, andere Regeln, andere Geschlechterrollen. Auch das sind Veränderungen, mit denen man klarkommen muss. „Mit Kindern“, sagt Raban Cramer, „können wir das noch schaffen, mit Männern wird das schwierig.“ 

Am einfachsten ist anscheinend die Umstellung auf eine „andere Schule“. Was ist der Unterschied? „Die Lehrer sind hier höflich“, sagt jemand. In anderen Ländern herrscht ein anderer Umgangston, manchmal werden Schüler geschlagen. In der Katholischen Schule Harburg wird nicht auf der Toilette geraucht und nicht getrunken. 

Die Geschlechterrollen? Ja, man achtet darauf. Medina muss nicht die Teetasse von Abdul Malik spülen, auch wenn sie es gern macht. „Medina, das ist nicht dein Job!“ 

Die zwei Deutschen haben auch reagiert, als ein 15-Jähriger eine fremde Dame ins Visier genommen und ihr „Schöne Frau, schöne Frau!“ nachgerufen hat. „Ein Gentleman macht das nicht. Die Frau fühlt sich doch belästigt!“ 

Aber das sind Kleinigkeiten im Vergleich zu den Kulturkonflikten, mit denen andere Schulen in Harburg und ähnlichen Hamburger Stadtteilen zu kämpfen haben. Wer sein Kind in einer katholischen Schule anmeldet, ist in der Regel nicht religiös radikal. Unterschiedliche Länder waren an der katholischen Schule immer schon vertreten. Aber es gab wenig muslimische Kinder. Das ist mit der neuen Vorbereitungsklasse anders geworden. „Die Schule hat sich verändert. Aber ich sehe darin nur eine Bereicherung“, sagt Schulleiterin Katrin Hoppmann. Noch mehr Länder, noch mehr fremde Spezialitäten am Buffet, und mehr religiöse Vielfalt. „Die interreligiöse Begegnung tut uns allen gut. Die Kinder, die nicht katholisch sind, sind ja wiederum Experten für ihren Glauben.“

Eine internationale Klasse stellt natürlich auch Anforderungen an die Schule. Was muss die Schule mitbringen, um das zu schaffen? Improvisationsgabe? Flexiblität? Starke Nerven? „Dazu braucht man vor allem Haltung“, sagt Katrin Hoppman. Wenn die Haltung da ist, folgt alles andere. Dann hat man auch die Nerven – auch wenn die Lehrer am Ende des Tages platt sind.“ Jörg Nintemann sagt, worin diese Haltung besteht. „Wir sind eine Schule für die, die ankommen. Das bringt unser christlicher Geist mit sich. Wir haben den Geist, in dem Menschen, die ankommen, willkommen sind.“ 

STICHWORT

Die Sprache als Schlüssel für das weitere Lernen

„Internationale Vorbereitungsklasse“ heißen in Hamburg Schulklassen für ausländische Kinder, deren Sprachkenntnisse nicht für den regulären Unterricht ausreichen. Der Unterricht dient vor allem dem Erlernen der Sprache. In anderen Bundesländern gibt es zum Teil andere Modelle, in Niedersachsen etwa „Sprachlerngruppen“ zusätzlich zum Unterricht. Unter den katholischen Schulen in Hamburg ist Harburg der einzige Standort mit einer “IVK“. 
https://katholischeschuleharburg.de
 

Andreas Hüser