Corona-Pandemie: Ausblick auf 2021

Aus der Krise etwas lernen

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Die Corona-Pandemie wird auch 2021 prägen. Der Theologe und Lebensberater Christoph Hutter erklärt, warum wir dennoch mit Hoffnung ins neue Jahr gehen können und was die Frage damit zu tun hat: Was ist gutes Leben?


Sich begegnen, sich wieder umarmen zu können: Das wünschen sich viele Menschen im neuen Jahr. Foto: istockphoto/Martin Dimitrov

Herr Hutter, mit welchen Gedanken gehen Sie nach einem schwierigen 2020 ins neue Jahr? 

Ich frage mich, ob wir aus der Corona-Pandemie prinzipiell etwas lernen können. Es reicht nicht, von der Hand in den Mund zu leben oder jeden Tag auf die Infektionszahlen zu schauen und uns davon beunruhigen zu lassen. Wir sollten auch überlegen: Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben? Was ist gutes Leben? Und was ist ein realistischer Blick auf das Leben? Ich glaube, dass wir uns da durch Corona korrigieren lassen müssen.

Inwiefern?

In meiner Beratung erlebe ich oft Familien, die aus ihrer Glückserwartung kippen – der Erwartung, dass alles reibungslos funktioniert, ein Karriereschritt dem anderen folgt, dass es mit der Partnerschaft ebenso klappt wie mit dem Kinderwunsch. Aber Familienleben ist nicht so rosarot wie es uns die Werbung verspricht. Wir müssen genauer hinschauen: Wie realistisch sind unsere Erwartungen? Auch 2021 werden wir unseren Urlaub nicht wie gewohnt planen können. Vielmehr werden uns Insolvenzen oder Arbeitsplatzverluste beschäftigen.  

Nicht langfristig planen zu können, verunsichert uns Menschen ...  

Ist es die Planbarkeit oder die Idee, dass alles verfügbar ist? Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa bringt hier den Begriff Unverfügbarkeit ins Spiel. Wenn ich verreisen will, ob nach Thailand oder Südafrika, kann ich buchen – vorausgesetzt, ich habe genug Geld. Aber Corona hat uns die Lektion erteilt, dass wir die Welt nicht so in der Hand haben, wie wir es gern hätten. Wir müssen uns mit dem Thema der Unverfügbarkeit auseinandersetzen. Wir können ja Pläne machen, aber wir müssen auch lernen damit umzugehen, dass sie sich nicht automatisch realisieren lassen.

Haben wir uns zu sehr an eine Welt gewöhnt, die sich nur durch Steigerung erhalten kann, in der nichts beschränkt ist, sondern alles verfügbar?

Die Corona-Krise zeigt uns, dass wir nur so getan haben, als sei alles erreichbar, als stünde uns alles zu, als sei permanente Steigerung normal, als sei Gesundheit verfügbar. Doch wir sind einem Irrtum aufgesessen, müssen nun reflektieren und uns eingestehen, dass unser Weltbild falsch war. Vielleicht sind wir ent-täuscht. Das bedeutet aber auch, das wir uns vorher ge-täuscht haben. Wir brauchen ein richtiges Bild von dem, was wirklich machbar und planbar ist. 

In einer Krisensituation entsteht auch schnell ein Gefühl des Kontrollverlustes. Ist das ein Grund für die Wut einiger Menschen, die sich bei Anti-Corona-Demos auf der Straße entlädt? 

Im Moment haben viele Menschen Angst, aus ihrem Toleranzfenster zu kippen. Ich benutze bewusst dieses Modell aus der Psychologie: In meinem Toleranzfenster bin ich emotional in der Lage, Dinge selbst regeln und kontrollieren zu können. Außerhalb dieses Fensters brauche ich andere Personen, die mich beruhigen und wieder in meine Mitte bringen. Ist aber keiner da, der mich versteht, mich an die Hand nimmt, wird es schwierig. Und ich glaube, das passiert gerade: Viele Menschen merken nicht nur, dass sie aus ihrer eigenen Handlungsfähigkeit herauskippen, sondern es ist auch niemand da, der das sieht, benennt, aufgreift und sagt: „Alles wird wieder gut.“

Aber nichts ist gut. Stattdessen legt die Corona-Pandemie Probleme erst richtig offen.

Corona ist wie ein Vergrößerungsglas. Wir müssen uns bestimmten Themen endlich politisch stellen: Es gibt Einsamkeit, wir steuern auf eine überalterte Gesellschaft zu, wir leben mit großer gesellschaftlicher  Ungerechtigkeit, Familien sind überlastet. Die soziale Schere klafft unter Corona weit auf, etwa bei der Frage, welche Schüler von Online-Unterricht profitieren und welche nicht. Corona legt offen, dass viele Menschen auf der Strecke bleiben. Ihre Nöte, Sorgen, Hoffnungen und Ängste müssen wir als Christen auf dem Schirm haben. Wir müssen im Leben der Menschen vorkommen und dort Antworten finden. Ich glaube, dass Corona die Pastoral eher stärkt, als relativiert, aber nur dann, wenn sie eine soziale Pastoral ist.


Christoph Hutter: "Wir haben nur so getan,
als sei alles erreichbar." Foto: Petra Diek-Münchow

Wie kann es trotz aller Probleme gelingen, hoffnungsvoll ins neue Jahr zu blicken?

Schwierig. Im Moment fühlen wir ja eher die Zumutungen, den Verlust, den Verzicht – und nicht so sehr den Hoffnungsschimmer am Horizont.

Was macht Ihnen denn Hoffnung?

Ich hoffe, dass wir die genannten sozialpolitischen Probleme klarer sehen. Und ich hoffe, dass wir uns wieder mehr existenziellen Fragen widmen: Was ist gutes Leben? Was steht mir zu? Steht es mir zu, in den Urlaub zu fliegen? Gehört das zu einem guten Leben? Und was macht eigentlich Beziehungsqualität aus? 

Warum macht es Sinn, darüber sprechen? 

Weil ich glaube, dass wir uns in einer permanent verfügbaren Welt verlieren können. Darum geht es auch dem Soziologen Hartmut Rosa: In einer Welt, die sich immer mehr beschleunigt und immer mehr Angebote schafft, laufen wir Gefahr, den vibrierenden Draht zwischen uns und der Welt zu verlieren. Dann bleibt vieles auf der Strecke. Dann sind wir nur noch Getriebene. Wir möchten uns aber als lebendig erfahren, indem wir uns berühren lassen und in Kontakt treten. 

Wie kann das gelingen?

Wenn in meiner Beratung jemand sitzt, der von seinem pubertierenden Kind genervt ist oder der seinen Arbeitskollegen kaum ertragen kann, dem rate ich, das Kind oder den Kollegen als Lerngeschenk zu sehen. Oft grinsen mich die Ratsuchenden an, weil sie genau wissen, welch eine Zumutung in diesem Wort steckt – aber auch, wie viel Wahrheit. 

Sie sehen Corona als Lerngeschenk? 

Ja, vielleicht ist Corona ein Lerngeschenk. Natürlich möchte ich niemanden vor den Kopf stoßen, der als Folge der Pandemie Angst vor einer Insolvenz hat oder davor, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Und ich möchte auch die vielen Corona-Toten nicht schönreden. Trotzdem sollten wir als Gesellschaft, als Kirche, als Familie darüber nachdenken, ob es nicht etwas gibt, das wir aus dieser Situation lernen können.

Interview: Anja Sabel


Der promovierte Theologe und Pädagoge Christoph Hutter, Jahrgang 1969, leitet die Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung im Bistum Osnabrück. Bereits während seines Studiums beschäftigte er sich auch mit Psychologie. Er ließ sich zum Psychodramaleiter für die Gruppentherapie sowie zum Ehe-, Familien- und Lebensberater ausbilden.