Missbrauchsskandal: Gespräch mit Justizministerin Barbara Havliza

Aus Verbrechen lernen

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Die Präventionsarbeit der Kirchen nennt Justizministerin Barbara Havliza vorbildlich. Im Interview äußert sie sich über den Aufklärungswillen der Bischöfe nach dem Missbrauchsskandal, warum die Kirche als Institution gebraucht wird und über religiöse Symbole in Gerichtssälen.


Barbara Havliza ist seit November 2017 Niedersächsische Justizministerin. Foto: Rüdiger Wala

Die Akten sind übergeben und umfassende Einsicht zugesagt. Ist das jetzt der von Ihnen geforderte umfassende Aufklärungswille der Bischöfe?

Ja, das ist er, soweit es die juristische Komponente betrifft. Die Bistümer gestehen zu, dass die strafrechtliche Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs eine Sache der Justiz ist. Mit der Zusicherung, erforderliche Unterlagen an die Strafverfolger herauszugeben, ist meine politische Arbeit als Justizministerin in dieser Angelegenheit getan. Die Aufarbeitung liegt nun dort, wo sie hingehört – bei den Staatsanwaltschaften.

Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer hat gesagt: Eine lückenlose Aufklärung sei nötig, „weil die Wahrheit ein erster Schritt zur Gerechtigkeit ist“. Teilen Sie diese Ansicht?

Eine lückenlose Aufklärung ist zumindest der erste Schritt zu einer strafrechtlich aufgearbeiteten Wahrheit. Gerechtigkeit hingegen ist etwas, das jeder anders empfindet. Denken Sie an die Fälle, in denen die Beschuldigten bereits verstorben sind: Hier können Staatsanwälte nur noch die Akten zuklappen. Ein Betroffener wird dadurch sicherlich kein Gefühl von Gerechtigkeit erfahren. Aber sofern die Täter noch leben und die Fälle ausermittelt werden, ist das aus justizieller Sicht schon ein Schritt hin zur Gerechtigkeit.

Zwei der sechs aus Hildesheim übergebenen Akten sind von der Staatsanwaltschaft wegen Verjährung geschlossen worden. Bedauern Sie, dass nun nicht mehr ermittelt werden kann?

Juristische Ermittlungen richten sich immer gegen einzelne Täter. Sind sie verstorben oder ist die Tat verjährt, dann entfällt die Grundlage für strafrechtliche Ermittlungen. Aber der Umstand, dass nicht ermittelt werden kann, ist nicht deckungsgleich mit einem Vergessen. Aus Verbrechen, auch wenn sie nicht vor Gericht aufgearbeitet werden können, kann und muss man für die Zukunft lernen. Ich denke da natürlich an die Präventionsarbeit.

Wäre es nicht an der Zeit für eine unabhängige Aufarbeitung mit Hilfe einer staatlichen Kommission?

Nur noch mal zum Rollenverständnis: Der Staat beziehungsweise die Justiz ist für die Strafverfolgung zuständig. Eine Aufarbeitung von strafrechtlich nicht mehr verfolgbaren Taten ist nicht die Aufgabe der Justiz und würde sie auch überfordern. Gleichwohl: Das Bistum Hildesheim hat angeboten, uns alle Akten zu übergeben, ganz gleich, ob die Täter verstorben oder die Taten verjährt sind. Ich stehe dem aufgeschlossen gegenüber. Wir könnten dies für die Präventionsarbeit fruchtbar machen. Aber darüber muss man sich im Einzelnen unterhalten.

Sie sind bekennend katholisch. Haben Sie sich mal gefragt: „Lieber Gott, wie konntest du das zulassen?“

Nein. Ich war einfach zu lange Strafrichterin, ich weiß um die menschlichen Abgründe. So ist mir im Laufe meines Lebens klargeworden, dass Gott uns einen freien Willen gegeben hat. Nicht jeder geht gut mit seinem freien Willen um. Das lässt mich aber weder an Gott noch an meinem Glauben zweifeln.

Sie haben den Vorschlag geäußert, eine Kommission zur Prävention von sexuellem Missbrauch einzurichten. Wie kann sie Kirchengemeinden, aber zum Beispiel auch Sportvereinen und Jugendfeuerwehren helfen?

Es ist nicht nur ein Vorschlag, wir sind schon in der Vorbereitung. Wir wollen möglichst viele gesellschaftliche Kräfte einbeziehen, auch die Kirchen. Gemeinsam wollen wir erörtern, wie man Strukturen erkennen und verhindern kann, die einen Missbrauch begünstigen. Diese Strukturen können sich immer da bilden, wo Kinder und Jugendliche mit Erwachsenen zusammenkommen und wo gegenüber den Erwachsenen ein Vertrauensvorschuss besteht. Die Ergebnisse einer solchen Kommission sollen über den Landespräventionsrat als Empfehlungen für Politik und Praxis veröffentlicht werden. Ich bin mir sicher, dass die Kirchen hier eine Menge beitragen können. Denn die in den vergangenen Jahren entwickelte Präventionsarbeit der Kirchen ist vorbildlich.

Hat sich ihre Einstellung zu einer Kirche gewandelt, in der, um wiederum Bischof Wilmer zu zierten, Männer Gottes das Böse in die Welt gebracht haben?

Das ist mir zu drastisch ausgedrückt. Auch Männer Gottes sind Menschen. Und immer dort, wo Menschen sind, passieren auch furchtbare Dinge. Leider. Das lässt mich aber nicht an der Institution Kirche zweifeln. Zutiefst enttäuscht wäre ich jedoch gewesen, wenn die Kirche so weitergemacht hätte wie früher. Indem einfach alles männerbündisch unter sich geregelt wird. Aber auch hier hat sich in den vergangenen Jahren viel getan und tut es weiter. Das ist auch gut so. Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen Institutionen, die den Menschen Halt und Gerüst bieten.

Sie haben selbst Urteile gegen Sexualstraftäter aus kirchlichen Zusammenhängen gesprochen. Wie gehen Sie damit um?

Wie mit jedem anderen Sexualstraftäter auch. Grundsätzlich spielen Beruf und Berufung für eine Anklage keine Rolle. Allerdings kann es sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn ein Täter ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt hat. Da gibt es viele Beispiele: Lehrer und Schüler, Trainer und Betreute, Priester und Messdiener. Das muss zuungunsten des Täters berücksichtigt werden. Aber die Justiz hat nicht die Aufgabe, den moralischen Zeigefinger zu erheben und eine Tat als besonders verwerflich zu bezeichnen, weil der Täter aus der Kirche kommt.

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass Richter und Staatsanwälte künftig keine religiösen Symbole im Gerichtssaal tragen?

Weil unsere Gesellschaft immer pluralistischer und multireligiöser wird. Die Justiz jedoch muss gegenüber den Bürgern vollkommen neutral auftreten. Das schließt ein, dass wir nicht durch ein Symbol optisch den Anschein erwecken, wir seien in unserer Entscheidungsfindung religiös, politisch oder weltanschaulich beeinflusst.
Ich sage nicht, dass Menschen mit Kippa, Kreuz oder Kopftuch die erforderliche Neutralität nicht besitzen. Wichtig ist vielmehr die Perspektive eines Beklagten oder Rechtsuchenden, der vor der Richterbank sitzt. Als dritte Gewalt im Staat mit einer verfassungsmäßig festgeschriebenen Neutralität dürfen wir nicht den Hauch eines Zweifels an unserer Neutralität aufkommen lassen.   

Was unterscheidet das Kreuz an der Wand, das es in zwei Amtsgerichten in Niedersachsen noch gibt, vom Kreuz an der Kette oder am Revers an der Jacke?

Die Menschen sprechen das Recht, nicht die Wände. Entscheidend ist allein die Person in der Robe. Und wir reden tatsächlich nur von zwei Amtsgerichten in Niedersachsen, wo es noch Kreuze in Gerichtssälen gibt. In Vechta und in Cloppenburg. Dies auch aus historischen Gründen, denken Sie an den Kreuzkampf im Oldenburger Münsterland während der Zeit des Nationalsozialismus. Und was man auch bedenken muss: Kreuze an der Wand können jederzeit abgenommen werden, wenn ein Verfahrensbeteiligter dies wünscht.

Haben Sie auch schon mal ein Kreuz in einem Ihrer Gerichtssäle abgenommen?

Ja, das habe ich. Und ich hätte strenggenommen gleich noch einen Maler dazu bestellen müssen. Denn das Kreuz hing dort zuvor jahrelang. Nach dem Abhängen sprangen die Umrisse deutlicher ins Auge, als wenn das schlichte Holzkreuz an der Wand einfach hängengeblieben wäre.

Interview: Rüdiger Wala