Was uns diese Woche bewegt
Berührender Blick auf die Vergänglichkeit
Sich von jemandem zu verabschieden, den man gerne hat, ist traurig. Eigentlich müsste man beim Abschied weinen, doch fast immer winken wir – kurbeln die Autoscheibe runter, drehen uns nochmal um und winken, ein Lächeln im Gesicht. Weil wir damit sagen wollen: Es war schön mit dir – mit euch, ich freue mich aufs nächste Mal. Doch seitdem meine Eltern sichtbar älter werden, habe ich immer diesen Kloß im Hals. Gibt es überhaupt ein nächstes Mal? Und was werde ich sehen, wenn wir uns wiedersehen? In drei Monaten. Oder doch erst in einem halben Jahr. Uns trennen fast 400 Kilometer.
Selten hat mich etwas so berührt wie die zufällig entdeckte Bilderserie „Leaving and Waving“ („Verlassen und Winken“) von Deanna Dikeman. Fast drei Jahrzehnte hat die amerikanische Fotografin den Moment festgehalten, in dem sie das elterliche Wohnhaus in Sioux City im US-Bundesstaat Iowa nach ihrem Besuch verlässt. Den Moment, in dem ihre Eltern zum Abschied winken: im Vorgarten, auf der Türschwelle, vor der Garage, auf der Einfahrt. Das erinnert mich an meine Eltern, inzwischen 82 und 86 Jahre alt. Sie laufen jedes Mal hinters Haus, stehen an der Straße, winken, und ich winke aus dem Autofenster, bis ich die beiden im Rückspiegel nicht mehr sehen kann.
Sie habe nie vorgehabt, eine Serie zu machen, schreibt Dikemann auf ihrer Internetseite. Die Fotos habe sie nur gemacht, um mit der Traurigkeit des Abschieds umzugehen. Mit der Zeit wurden sie zum Ritual. Und irgendwann erkannte sie, dass die Fotosammlung eine besondere Geschichte erzählt. Eine Geschichte über Familie und Liebe, das Altern und die Trauer beim Verabschieden.
Was werde ich sehen, wenn wir uns sehen? Dikemans Antwort ist ein Schnelldurchlauf durch 27 Jahre, ein Langzeitprotokoll des Älterwerdens. Leise, berührend, inspirierend und faszinierend. Die Jahreszeiten wechseln, die Mode auch. Die Gesichter der Eltern werden faltiger, ihre Körper gebückter, ihr Lächeln wehmütiger. Auf einem Foto aus dem Jahr 2009 ist der Vater nicht mehr zu sehen. Er starb wenige Tage nach seinem 91. Geburtstag. Die Mutter winkt weiterhin zum Abschied. Bis zum Jahr 2017. Als Dikeman nach der Beerdigung ihrer Mutter abreist, macht sie noch ein Foto von der leeren Einfahrt. Und schreibt: „Zum ersten Mal in meinem Leben winkte mir niemand zurück.“
Heute hängen Dikemans Fotos weltweit in Ausstellungen, sie teilt ihre persönliche Sammlung mit Fremden. Zum Glück! Denn es geht vielen so wie ihr, wie mir – wie allen, die den Abschied von Eltern oder Kindern kennen. Leben geht zu Ende, anderes Leben geht weiter, neues Leben entsteht.