Ärzte und Kirchen setzen sich für einen Ethikrat ein

Corona ist auch Frage der Ethik

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Unstimmbare Entwicklung, heikle Fragen, schwierige Entscheidungen: Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine Sache der Medizin. Ärzte und Kirchen setzen sich nun für einen Ethikrat in Niedersachsen ein.


Kleine Demonstration vor dem Landtag: Bischof Franz-Josef
Bode, die SPD-Abgeordnete Thela Wernstedt, Landesbischof
Ralf Meister und Ärztekammer-Präsidentin Martina Wenker
(von links) machen sich für einen Ethikrat stark.

In mehreren Etappen will das Land Niedersachsen nach der Corona-Pandemie wieder zur Normalität finden. Es bleibt ein Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz und dem Lockern bisheriger Einschränkungen. Dabei bleiben auch heikle Fragen nicht aus: zum Beispiel die Situation von kranken und alten Menschen.

Bischof Franz-Josef Bode braucht nur einen Satz, um das Problem vor Journalisten zu benennen: „Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein.“  Der Bischof von Osnabrück fährt fort: Er sei 69 Jahre alt, an Diabetes erkrankt, mehrfach operiert. Derzeit ist das Anlass für einen gesellschaftlichen Ausschluss – aus Gründen des Infektionsschutzes.

So wichtig das Kontaktverbot in Niedersachsen während der Pandemie ist, birgt es jedoch ein moralisches Dilemma: Ist es auch gesellschaftlich geboten, Bewohner von Alteneinrichtungen den Besuch von Angehörigen vorzuenthalten? Ist nicht die Einsamkeit ein zu hoher Preis, den sie zahlen müssen? Solche Fragen sollen nach Vorstellung der niedersächsischen Ärzteschaft und den beiden christlichen Kirchen künftig in einem Ethikrat diskutiert werden, der Ratschläge an die Politik gibt. Zusammen mit Bode rufen der Landesbischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Ralf Meister, die SPD-Landtags­abgeordnete und Ärztin Thela Wernstedt und die Präsidentin der niedersächsischen Ärztekammer, Martina Wenker, zur Gründung eines solchen Gremiums auf.

Kein Gang in den Garten, kein Sitzen in der Sonne

Kammerpräsidentin Wenker blickt derzeit mit Schrecken in die Altenheime. Dort werden Menschen isoliert, ohne zu fragen, ob sie das überhaupt wollen: „Selbst wenn sie nicht am Corona-Virus erkrankt sind, dürfen sie nicht mehr in den Garten, nicht in der Sonne spazieren gehen.“ Die ethischen Grundsätze des ärztlichen Berufs behalten auch in der Pandemie ihre Gültigkeit: Jeder Patient hat das Recht auf eine individuelle ärztliche Behandlung unter Beachtung seines Selbstbestimmungsrechtes.“

Statt Menschen in ihren Zimmern einzusperren, müsse in Pflegeheimen vermehrt getestet werden: „Es gibt doch keinen Grund, wenn jemand Corona-frei ist, nicht das eigene Leben weiterleben zu dürfen.“ Doch auch hier gibt es ein Problem: Krankenkassen zahlen den Test nicht, weil es sich um Seuchenbekämpfung handelt. Die Kommunen übernehmen die Kosten nicht, da Betroffene noch nicht erkrankt seien. „Hier muss eine Lösung zu finden sein“, sagt Wenker – das wäre einer der möglichen Ratschläge eines Ethikrates.

Ein zweites Problem: die Einteilung von Menschen in Risikogruppen. Für die Sozialdemokratin und Ärztin Thela Wernstedt widerspricht die Kategorisierung dem Grundgesetz. Landesbischof Meister sieht sogar die grundlegende Verschiebung ethischer Standards: „Wir erleben eine Debatte über den absoluten Vorrang des Lebensschutzes, wie wir sie uns vor Monaten nicht vorgestellt haben.“ Mehr Freiheiten für die einen dürften nicht mit der Ausgrenzung anderer erkauft werden – auch nicht mit dem vergleichsweise kleinen Anteil von älteren Menschen, die in Pflegeheimen leben.

„Das Leben hat einen Mehrwert – die Würde“

Für Bischof Bode gilt weiterhin ein alter Grundsatz der Seelsorge: Sie dient dazu, den Menschen beim Leben und beim Sterben zu  helfen. In der akuten Krise sei Seelsorge und Pflege geprägt von Hygieneregeln und Abstand halten. Doch nun stehe die psychosoziale, spirituelle und medizinische Versorgung von Schutzbedürftigen vor neuen und langanhaltenden Herausforderungen. Gerade die Corona-Pandemie habe eines deutlich gemacht: „Es geht nicht nur allein um den Schutz des Lebens, sondern auch um dessen Mehrwert – die Würde.“ Oder anders ausgedrückt: „Der biologische Tod ist etwas Schlimmes, aber der soziale Tod ist mindestens ebenso schlimm.“

Gefordert sind nach Ansicht von Landesbischof Meister  „mehr Mut, mehr Initiative, mehr Ideen“. Er verwies auf ein Beispiel aus den Niederlanden. Dort werden Container vor Altenheime gefahren. Im Inneren können sich Heimbewohner mit ihren Angehörigen treffen – getrennt durch eine Plexiglasscheibe: „Über solche Dinge muss man auch nachdenken.“

Genau das will der nun von dieser Initiative vorgeschlagene Ethikrat: Nachdenken, wie Infektionsschutz und Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit miteinander abgewogen werden können. Der Parlamentarierin Thela Wernstedt schwebt dabei ein Gremium vor, in dem neben Kirchen und Ärzten auch die Wohlfahrtsorganisationen, die Pflegekammer und Wissenschaftler angehören. Entscheidungen müssen sorgfältig abgewogen werden: „Schließlich befinden wir uns in einer Dauerkrise.“

Rüdiger Wala