Die Geschichte des Talmud

Debatte mit Gott

Image

Angeblich besteht er aus zweieinhalb Millionen Wörtern: der Talmud. Er gilt als geheime Energiequelle, aus der die verfolgte und quer über die Welt gejagte jüdische Gemeinschaft ihre Identität bezog. Und ihren Mut zum Widerstand.

Zwei Männer stehen in Mitten von Büchern in einer Talmudschule in Mea Shearim, dem ultraorthodoxen Stadtviertel von Jerusalem.
Ein lautes Summen wie in einem Bienenhaus: In den Talmudschulen diskutieren Juden über die Auslegung Ihrer heiligen Schrift. 

Von Christian Feldmann

An einem frühen Morgen des Jahres 1242 wälzt sich eine merkwürdige Strafexpedition durch die Straßen von Paris: zwei Dutzend Pferdekarren, bis obenhin beladen mit voluminösen Talmud-Handschriften, Hunderte, Tausende. Mönche und von der Kirche bezahlte Büttel haben sie aus allen Synagogen, Lehrhäusern und Rabbinerwohnungen des Landes aufgrund päpstlicher Anordnung konfisziert. Auf einem weiten Platz im Pariser Stadtzentrum halten die Karren an. Die Handschriften werden abgeladen und auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt. Es ist die erste Bücherverbrennung im großen Stil in Europa.

Papst Gregor IX. argumentierte damals, der Talmud enthalte „viele missbräuchliche und scheußliche Dinge, die dem Leser und Hörer Scham und Abscheu einflößen“. Mit sicherem Instinkt witterten die Judenverfolger in den heiligen Schriften die verwundbarste Stelle ihrer Gegner: Kraftquelle, geistige Heimat und Garant ihrer Identität. Der Talmud – das war das Judentum. 

Um die überragende Bedeutung dieses Buches – besser gesagt: dieser Büchersammlung – zu verstehen, muss man wissen, dass nach jüdischer Anschauung mit der Fertigstellung der Bibel das Gespräch zwischen Gott und den Menschen keineswegs abgeschlossen ist. An die Seite der schriftlich vorliegenden Offenbarung tritt die mündliche Überlieferung der Rabbiner, treten ein ständiger Diskurs über die Bibel, ihre Kommentierung und aktuelle Interpretation, die nach Jahrhunderten schließlich in ein neues umfangreiches Schriftwerk münden: den Talmud.

Beide Überlieferungsstränge – die Bibel und ihre Auslegung – werden als gleichrangig betrachtet. Der Kommentar macht den Sinn der Schrift erst transparent. Die Tora – das biblische Gesetz – gehört Gott nicht mehr, weil er sie den Menschen geschenkt hat, sagen die Rabbiner in ihrer Vorliebe für freche, überspitzte Formulierungen. 

Die Juden lassen sich ihren Gott nicht nehmen

So ist im Lauf der Jahrhunderte ein gewaltiges Werk zusammengekommen, das in den meisten aktuellen Ausgaben fünfzehn dicke Bände umfasst. Ein gigantischer Fundus von Fragen und Antworten, Kommentaren und Diskussionen. Darunter bunt verstreut überraschend vielfältiger Wissensstoff aus Geografie und Astronomie, Medizin und Rechtswissenschaft. Und immer wieder Geschichten, Legenden, Parabeln, Weisheitserzählungen. 

Die Tora kennt keinen Anfang, der Talmud kein Ende, behauptet ein jüdisches Sprichwort. Doch vielleicht kann man die historische Entwicklung trotzdem ein wenig eingrenzen. Die Bücher der Bibel – genauer gesagt, die vielen Textelemente, die später zu Büchern zusammengefasst wurden – waren zum Teil schon tausend Jahre mündlich überliefert worden, bis sich die Redakteure an die Arbeit machten. Auch die immer umfangreicheren Kommentare zu den Bibeltexten wurden lange mündlich weitergegeben. Als das Material kaum mehr überschaubar war, begann man mit der Niederschrift des Stoffes. 

70 nach Christus sinkt der Jerusalemer Tempel, das Symbol der Gegenwart Gottes, im Krieg gegen die römischen Besatzer in Schutt und Asche. Aber die Juden lassen sich ihren Gott nicht nehmen. Ab sofort finden sie ihn in den Synagogen und Lehrhäusern, in der Lektüre der heiligen Texte. Um das Jahr 200 bringt der religiöse Führer der Juden in Palästina, ein gewisser Rabbi Jehuda, die erste Sammlung der bisher mündlich überlieferten Lehre in sechs gewichtigen Bänden heraus, genannt Mischna, „die Lehre“. 

Die Mischna wird heiß diskutiert in den Schulen und Lehrhäusern, und zweihundert Jahre später erscheinen die Protokolle dieser Diskussionen unter dem Namen Gemara, „Vollendung“. Mischna und Gemara zusammen bilden den Palästinensischen oder Jerusalemischen Talmud, dem aber im Lauf der Entwicklung nur eine historische Bedeutung zukommt. 

Denn über die Mischna wird nicht nur in Palästina heftig debattiert, sondern auch in Sura, Pumbadita, Nahardea und wie die geistigen Zentren im Babylonischen Reich alle heißen. Der Hintergrund: 586 vor Christus hatte der babylonische König Nebukadnezar II. Jerusalem er-
obert und die jüdische Oberschicht nach Babylon deportiert, wo sie sich teils der dortigen Kultur anpasste, teils aber auch die eigene religiöse Tradition bewahrte und vertiefte. Um 500 nach Christus erschien der sogenannte Babylonische Talmud, der für das Judentum bis auf den heutigen Tag verbindlich wurde.

Eine fast sinnliche Freude an der Diskussion

Die Diskussion ging natürlich weiter in den Lehrhäusern von Prag und Worms, Paris und New York. Im Grunde geht es in den Talmudschulen, den Jeschiwot, und den Lehrhäusern heute noch zu wie vor Jahrhunderten: Die frommen Juden sitzen über ihren Talmud gebeugt und lesen laut oder sie debattieren erregt. Es ist ein lautes Summen wie in einem Bienenhaus; aber keiner stört sich an dem Lärm.

Juden haben religiöse Grundüberzeugungen, aber keine Dogmen. Sie studieren und debattieren und haben eine fast sinnliche Freude am Diskurs. Die Botschaft des Talmud heißt, dass die Wahrheit komplex und vielfältig ist. Deshalb respektiert jeder echte Talmudgelehrte bei aller Leidenschaft die Meinung seines Gesprächspartners. Nur Gott allein kennt die volle Wahrheit, und sogar Gott diskutiert mit, wenn fromme Juden über die Heiligen Schriften streiten. Es kann vorkommen, dass er dabei den Kürzeren zieht. Und ein wenig betrübt, aber auch mit beifälligem Stolz feststellen muss: „Meine Kinder haben mich besiegt!“