Interview mit Gabriele Andretta

„Demokratie muss wehrhaft sein“

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Vor 75 Jahren trat erstmals der neugewählte niedersächsische Landtag zusammen. Wie ist es ein dreiviertel Jahrhundert später um die Demokratie bestellt? Ein Gespräch mit Landtagspräsidentin Gabriele Andretta.


Begonnen wurden die Jubiläumsfeierlichkeiten mit einem ökumenischen Gottesdienst. Ist Religion netter Zierrat, oder wie steht es heute mit dem Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, wie es in der Präambel der Verfassung steht?

Für viele Menschen und auch Politikerinnen und Politiker ist Religion noch immer ein wichtiger Bezugspunkt für Überzeugungen und das eigene Handeln. Aus ihrem Glauben schöpfen viele Abgeordnete Kraft für die Übernahme von Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sowie dem Allgemeinwohl.

Die Feierlichkeiten fanden vor dem Hintergrund einer immer noch existenten Corona-Pandemie und einem Angriffskrieg im Herzen Europas in der Ukraine statt. Ist Ihnen nach Feiern zumute?

Die Pandemie und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf die Ukraine sind Ereignisse, die alles in ein Davor und ein Danach teilen. Der Festakt steht für eine reflektierte Wertschätzung gegenüber unserer parlamentarischen Demokratie und all ihrer Leistungen – und trotzdem werden die Gedanken immer wieder bei den Menschen in der Ukraine sein. Den Wert unserer Demokratie und ihres Fundamentes bekommen wir aktuell in der Ukraine, wo die Menschen um eben diese Werte – Freiheit, Selbstbestimmung, territoriale Integrität – kämpfen, auf erschütternde Weise vor Augen geführt. In diesem Bewusstsein um die Fragilität von Demokratien und der Notwendigkeit ihrer Verteidigung begehen wir  unser Jubiläum.

Wie gefestigt ist Ihrer Ansicht nach die Demokratie in Niedersachsen und Deutschland? Gerade durch die Pandemie scheint der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchiger geworden zu sein, der Bundespräsident sprach davon, dass etwas in Rutschen gekommen sei.

Institutionenskepsis, ein Wandel der Öffentlichkeit, populistische Bewegungen – das Modell der freiheitlichen Demokratie ist weltweit enorm unter Druck. Im internationalen Vergleich schlägt sich unser demokratisches System dennoch ganz gut und der Parlamentarismus in Niedersachsen, geprägt von Respekt, Lösungs­orientierung und Kompromissbereitschaft, erweist sich bislang als äußerst robust. Dennoch gibt es auch bei uns besorgniserregende Tendenzen: Extremistische Gewalt oder die Zersplitterung des öffentlichen Diskurses sind nur Beispiele. Die Erfolgsgeschichte unseres Landes ist die Erfolgsgeschichte der parlamentarischen Demokratie. Der Landtag ist ihr zentraler Ort. Es ist Aufgabe von uns allen – im Parlament und außerhalb –, dass dies so bleibt.

Auch mit Blick auf Europa: Zuletzt hat sich im Nachbarland Frankreich gezeigt, wie viel Zuspruch populistische Parteien mit einfachen Parolen bekommen können. Was können Sie als demokratische Politikerin populistischen Stimmungen entgegensetzen?

Die Stimmenzugewinne von Marine Le Pen mit jedem Versuch, in den Élysée-Palast einzuziehen, müssen uns eine Mahnung sein. Alle demokratischen Akteure müssen transparent, hartnäckig und gemeinschaftlich daran arbeiten, konkrete Lösungen für diverse sehr komplexe Probleme zu erarbeiten – und dabei, mit verständlicher Sprache, immer wieder betonen, dass es für die zentralen Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel oder die Globalisierung eben keine einfachen Lösungen gibt. Wir müssen immer wieder beweisen: Die Demokratie schafft durch politischen Ideenwettbewerb die besten Lösungen!

Auch die Konzentration von ökonomischer Macht kann die Demokratie bedrohen. Welche Möglichkeiten hat die Politik hier?

Die Debatte über eine demokratiekonforme Wirtschaft oder eine wirtschaftskonforme Demokratie gibt es bereits seit Längerem. Es muss alles dafür getan werden, dass immer das Primat der demokratischen Politik gilt. Es darf nicht zugelassen werden, dass etwa der sozioökonomische Status darüber entscheidet, wie gut eine Bevölkerungsschicht repräsentiert wird. Ein anderes Beispiel sind Klima- und Umweltschutz: Die uneingeschränkte Wachstumslogik des Kapitalismus gerät hier an ihre Grenzen – das muss Politik deutlich machen und Lösungen erarbeiten.

Wie kann eine Institution wie der Landtag, dessen Kultur auch von öffentlich ausgetragenem und zuweilen sehr scharfem Streit geprägt ist, zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen? Passen da Erscheinungsbild und Absicht?

Für die Demokratie ist nicht der Streit an sich gefährlich, eher im Gegenteil. Neue Antworten auf veränderte Probleme sind vielfach erst das Resultat von Konflikten. Gefährlich ist es, wenn Argumente nicht mehr ausgetauscht, sondern einander wie Backpfeifen um die Ohren geschlagen werden.

Demokratisches Bewusstsein setzt die Möglichkeit zur Teilhabe voraus. Wie kann Politik Chancen ermöglichen und gleichzeitig wehrhaft sein?

Unsere Demokratie und unsere Verfassung halten alles bereit, um auch in der Zukunft zu bestehen. Zugegeben: Die Demokratie verlangt den Bürgerinnen und Bürgern viel ab. Es ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft und insbesondere der Politik, alles dafür bereitzustellen, dass selbstbewusste und informierte Bürgerinnen und Bürger ihren Teil beitragen wollen und können. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung muss bei jeglichem politischen Handeln das Fundament sein, das es vehement zu schützen gilt – durch persönlichen Einsatz bis hin zu juristischen Mitteln. Aus unserer Geschichte haben wir gelernt, eine Demokratie muss wehrhaft sein!

Interview: Rüdiger Wala
 

„Politik nicht ohne Mitgefühl“
Vor dem Festakt zur 75-Jahr-Feier des Landtages wurde in der hannoverschen Marktkirche ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert.

„Vor 75 Jahren kamen die neugewählten Abgeordneten des Landtags aus den Trümmern der Häuser, der Politik und Moral“, sagte Bischof Heiner Wilmer: „Wir empfinden große Dankbarkeit für die Frauen und Männer, die sich für unser Wohl engagieren.“ Doch Frieden und Freiheit seien brüchig geworden: „In der Ukraine wird die Demokratie verteidigt und mit dem Leben bezahlt.“

Darauf verweist auch der evangelische Landesbischof Ralf Meister: „Wir erleben die geringe Reichweite der Appelle, die Vergänglichkeit der guten Worte.“ Gleichzeitig packen die Niedersachsen wieder an, reagieren auf konkrete Notlagen nach Monaten einer Zeit, in der die Einheit des Landes bis zum Zerreißen gespannt war: „Politik ist nicht möglich, ohne Mitgefühl für die Not des anderen und für die Schöpfung.“